Die Traverse Zurück

Vier Wochen später weht mich ein leiser, kühler, viel zu früher Windhauch aus dem Schlaf. Widerwillig öffne ich ein halbes Auge und drehe mich auf die Seite, um weiter zu dösen. Doch irgendwas stimmt nicht. Die Luft riecht nach Lavendel und Rosmarin. Das erste Tageslicht flutet durch die offene Holzfassade in den Raum. Es dauert noch kurz, dann bin ich auf einmal hellwach: Ich bin wieder in Puimoisson.

Die Blicke waren Gold wert, als ich gestern Abend zum zweiten Mal in einem Monat mit Direktflug vom bayerischen Alpenrand aus dem Ventus kletterte. Wieder hatte es knapp neun Stunden gedauert, wieder war der frühe Einstieg aus Norden die wichtigste, nur unter größten Schwierigkeiten überwindbare Hürde. Wieder hatte die riskante Abkürzung durch Tessin und Bedretto funktioniert, wieder brachte die unerhört starke Thermik im Mattertal die Wendung im Zeitplan. Und genau wie vor vier Wochen spuckte mich der Parcours de Combattants pünktlich zur Abendsonne am äußersten Ende der Alpen über dem Plateau de Valensole aus. Als ich kurz darauf mit meinen sieben Sachen vom Flugfeld zum Restaurant hinüber stapfte, lag der vegetarische Burger schon für mich auf dem Grill.

Das Netz der Wandersegelflieger entlang des großen Alpenrückens war in diesem Sommer eng geknüpft: Mit der Zwischenlandung der zwei unerschrockenen Unterwössener im Wallis hatte vorgestern Abend auch das traditionelle Münsterlager von meinem erneuten Plan erfahren, was wiederum Stefan, einen ausgezeichneten Schweizer Piloten mit DG-800, ebenfalls nach Süden gelockt hatte. Der saß nun bereits wartend auf der Veranda. Cola und Gesellschaft bekommen besonders gut, wenn man dafür siebenhundert Kilometer weit geflogen ist.

Ich stolpere früh aus dem halbfertigen Chalet ohne Wand, in dem uns Alfred für die Nacht hilfsbereit untergebracht hat. Wäre ich nicht so aufgeregt, würde ich jetzt noch locker zwei Stunden schlafen, aber heute ist die Sonne noch nicht einmal über dem langen Grat der Serre. Da sich sonst noch nichts bewegt, hieve ich den schweren Ventus mühsam alleine aus seiner Ecke auf die Startbahn. Letztes Mal hatte ich zwei Tage Zeit um von hier aus wieder heimzukommen – eine halbwegs komfortable Lage mit vielen strategischen Möglichkeiten, auch wenn ich den Reservetag am Ende gar nicht brauchte. Diesmal hingegen schaue ich gar nicht ins Wetter. Es gibt nichts zu überlegen, denn morgen ist Montag. Die Traverse zurück muss heute gelingen.

Der Unterschied zwischen den Abflügen aus den Nordost- und Südwestalpen ist vor allem, dass man sich hier unten erst gar keine Illusionen über einen frühen thermischen Start macht. Die warme Luft mitten im Hochdruckkern erreicht ihre Auslösetemperatur an den Randbergen erst zu einer Zeit, zu der wir im Norden schon seit einer Stunde mit großer Hoffnung in miserabler Thermik hängen, oder bereits unten in Krün sitzen. Heute erscheint die erste Wolkenkuppe im Osten hinter dem Chiran pünktlich gegen halb zwölf. Eine Viertelstunde später hänge ich an der Morane und klinke in 700 m über Saint-Jurs aus. Zögerlich geht es minutenlang hoch und runter, aber die Wolken im Norden versprechen einen pfeilschnellen Abflug. Da mich die Serre heute wohl nicht mehr sehen möchte, schleiche ich vorsichtig an den Beynes. Stefan ist auf dem Weg zurück nach Münster bereits an der Coupe und meldet bestes Steigen. Ich atme auf: Mag im Norden kommen was wolle, die nächsten zwei Stunden feiern wir erstmal das legendärste Rennen der Alpen.

Ich weiß, dass jede Minute, die ich hier unten spare, später im schwierigen Graubünden meine Chancen erhöht. Also lege ich den Stil an, den jeder nicht Eingeweihte zurecht als komplett rücksichtslos einstufen würde. Auf die Coupe genau auf Grathöhe zielen, selbst im Steigen mit 170 weiter, denn nach oben wird es nur schwächer. Der zweitbeste Bart steht vorne kurz vor dem Gipfel, der beste darauf oder dahinter – jedes Mal eine kleine Wette. Die Coupe nicht unter 2100m verlassen, 2400 sind besser. Wer am Cheval Blanc nicht achtern muss, spart mehrere Minuten. Bloß nicht vergessen rechtzeitig mit dem Gelände mitzusteigen. Wer hoch genug ist, kann das Loch am Carton und den Grat der Vachiere probieren, mit dem Caduc als Rückfall-Option. Ab hier kann man auf den Sendemast peilen, und wer drüber ist, kommt auch haarscharf über den Col d’Allos. Erst jetzt am Col oder spätestens am Chapeau de Gendarme ist es taktisch erlaubt an die Basis zu gehen. Aus 3000 m kann ich mit 190 km/h zum Grand Berard queren. Zurück an Stefan, der den Allos nicht so gut erwischt hat, melde ich 4 m/s über 600 Höhenmeter. Es ist mir jedes Mal ein Fest.

Um 13:50 verlasse ich die Provence am Col d’Etroite in 3700m unter der letzten Wolke des Paradieses. Der 20 km lange Gleitflug an den Westrand der Vanoise gibt mir Zeit, aus dem Rausch der letzten eineinhalb Stunden zurück in die Realität zu finden. Ab hier stehen nur noch einzelne Flusen in riesigem Abstand über den höchsten Kämmen. Unten im Val d’Isere ist alles sommerlich dunstig. Jetzt muss bis Aosta jeder Gleitflug und jeder Bart sitzen. Maurienne, erster Flusen, 4000m. Dreißig Kilometer gleiten. An Meribel und Courchevel vorbei. Zweiter Flusen. 4100m. Dreißig Kilometer gleiten. Kleiner St. Bernhard. Dritter Flusen. 3900m. Und wieder gleiten. Links oben der herrliche Mont Blanc, dessen Größe mir jedes Mal einen kurzen, angenehmen Grusel in den Nacken jagt. Rechts unten Italien, Aosta, und die Talflanken voller Wolken, die die Sicht nach Nordosten versperren.

Auch wenn ich nicht ausschließen will, dass die klassische Route über das Valpelline offen ist (aus knapp 4000m Höhe sehen selbst 3500m Basis unangenehm tief aus), möchte ich es nicht auf eine Sackgasse ankommen lassen. Also halte ich auf den Grand Combin zu, den ich noch nie aus der Nähe gesehen habe. Am Großen St Bernhard mache ich einige Kreise in 1.2 m/s auf 3600m, um bloß nicht den Anschluss zu verlieren. Mit jedem Meter steigt der Puls: Selbst drüben im nunmehr vertrauten Mattertal bin ich mir in so großer Höhe noch nie so niedrig vorgekommen wie nun im Angesicht des 4314 m hohen Eisriesen. Ich versuche die Südflanken zu lesen, so wie ich es in den Ostalpen immer mache, und glaube zu sehen an welchem Pfeiler der Aufwind steht. Doch auf dem Weg geht das Vario in den unteren Anschlag. Eine Minute vergeht mit 5 m/s Sinken. Mangels besserer Ideen halte ich weiter auf die Kante am Talschluss zu. Das Sinken hört nicht auf. Ist das die kalte Gletscherluft, die mir von tausend Metern höher auf den Kopf fällt? Ich bin auf 3100m herab und sehe mich schon unten am Mont Mary entweder in die Inversion einsinken, oder zumindest meinen gesamten erzielten Zeitvorsprung aus dem guten Abflug verspielen. Unangenehme Sekunden vergehen, in denen ich nicht weiß ob ich abdrehen oder weiter suchen soll. Das anemoi sagt immer noch leichten Südwind, auch wenn es sich eben noch wie ein Lee angefühlt hat. Endlich bin ich an der Kante, auf die ich gezielt habe, wenn auch inzwischen unter Grat. Es schüttelt, es hebt, plötzlich wird es ganz ruhig. Nach einem Achter kann ich einkreisen – über 3 m/s.

Mir schwant, dass ich nun vielleicht etwas machen kann, das die französischen Bergführer „Haute Route“ nennen: Über den Otemmagletscher ins Val d’Arolla und dann von Westen her via Dent Blanche nach Zermatt. Es wäre der direkteste und legendärste Weg, und ob ich jemals wieder so eine Ausgangsposition dafür bekommen werde? Der Puls steigt weiter, aber diesmal im Guten. Mit jedem Kreis werde ich überzeugter von der Idee. In 3850 m ziele ich nach Nordosten, wo es irgendwo einen Weg längs durch den Hauptkamm geben soll.

Die kilometerlange Otemma-Gletscherzunge liegt wenige hundert Meter direkt unter mir, und ich folge ihr bergauf bis zur Wasserscheide. Meine Höhe reicht knapp über den Grat. Stefan ist drüben am Mont Blanc, aber er beobachtet jeden meiner Züge im Flarm. „Willkommen in der Schweiz“, tönt er im Funk. Doch ich sehe erstmal nur Eis, egal wohin ich schaue. Ich bin jetzt genau in der geographischen Mitte des höchsten zusammenhängenden Abschnittes im Alpenhauptkamm. Hier war ich noch nicht einmal im Simulator. Um weiter ins Mattertal zu kommen, muss ich noch mindestens 600 Meter steigen, und wenn nicht, muss ich sofort nach Norden raus ins Wallis. Unschlüssig probiere ich erfolglos mehrere Felsabbrüche direkt auf dem Grenzkamm. Im Talschluss des Arolla-Tales ist plötzlich leichter Nordwind. Also müssen doch irgendwo massive Bärte zwischen den Gletschern stehen, aber wo? Sicherlich dort, wo am meisten Luft nachgeliefert wird. Der Talschluss macht ganz oben eine kleine Kurve, und darüber ragen senkrechte, hellrote Felsen aus dem Eis. Ich fädele unterhalb der Steinkante ein und habe sofort 1 m/s. Mit jedem Meter beruhigt sich mein Herzschlag. Ich kann mich nicht erinnern, schon einmal inmitten einer so rührend spektakulären Kulisse manövriert zu haben. Bald kann ich wieder kreisen – woher es jetzt plötzlich knapp 3 m/s sind weiß ich auch nicht – und mit jedem Kreis erscheint ein Stück mehr vom Matterhorn im Osten jenseits der ewigen Eisfelder.

In 4200m gehöre ich im Anflug auf den Südgrat des Dent Blanche bei weitem nicht zu den Riesen. Doch es genügt, um über den Glacier Mont Mine nach Zermatt zu schleichen. Zum ersten Mal seit einer halben Stunde kenne ich mich wieder aus. Es ist 15:12 Uhr. Im schnellen Süden zu starten bedeutet, ausnahmsweise nicht den ganzen Tag dem Zeitplan hinterher zu hecheln.

Am Dom komme ich nochmal auf 4200 Meter und folge dem Mattertal ins Wallis. Ich bin so hoch, dass ich einfach direkt über den Simplon abkürzen kann. Bis Münster komme ich noch zweimal bis gut 3700m, doch weiter vorne stehen nur noch undefinierte, unterschiedlich hohe Flusen über dem sonst stahlblauen Alpenhauptkamm. Das Urseren sieht nicht einladend aus – kein Wunder, dass man aus Süden und Westen kommend normalerweise spätestens hier wendet. Ich verabschiede mich im Funk von Stefan, der bald wieder in Münster ankommen wird, und gehe vorsichtig über den Nufenenpass. Ab jetzt möchte ich um jeden Preis auf der Hauptkammrippe bleiben, um möglichst lang sowohl ins Bedretto als auch nach Andermatt abtropfen zu können. Einige Wolkenzeichen am Gotthard kommen und gehen, aber nirgendwo ist nutzbares Steigen. Die halbe Strecke ist geschafft, aber die Party ist vorbei.

Ich bin froh, im Wallis noch die maximale Höhe geholt zu haben, denn so bin ich sogar querab Ambri noch knapp über Grat, mit allen Optionen. Auch wenn die letzten Wolken alle nicht zogen, halte ich auf die nächsten zu – oben am Lukmanierpass, dessen umliegende Hochplateaus weder durch die nasse Tessinluft, noch die stabile Luft aus Norden gestört werden, liegen jetzt die größten Chancen.

Kurz vor der Passhöhe mache ich in 3000 m knapp hundert Meter mit 0.4 m/s, um bloß nicht vom Grat zu rutschen. Erst jetzt kann ich sicher den Kern des hohen Geländes erreichen, und prompt erwischt mich das Steigen nur wenige Meter über dem Gipfel des Piz Blas – es ist der erste nutzbare Bart seit 50 Kilometern. Da die Tessiner Seite ansonsten so enttäuschend verlief, mache ich den vollen Umweg über den Lukmanier nach Nordosten zum Piz Medel, dem einzigen Berg am Vorderrhein mit dem ich bisher fast durchweg gute Erfahrungen gemacht habe. Auch heute enttäuscht mich der Nordpfeiler nicht, und in unter vier Minuten werde ich von 3200 auf 3900 Meter zurück gepustet – eine für Graubünden ungewöhnliche Höhe. Ab jetzt habe ich wieder die Königsdorfer im Funk. Es sind nur noch 80 Kilometer ins Engadin, obwohl es noch nicht einmal halb fünf ist!

Wie so oft sieht Graubünden thermisch kaum entwickelt aus: Dunstige Luft sickert aus Süden über den Hauptkamm, und lediglich nahe der Konvergenz stehen einzelne relativ hohe Wolkenfetzen. Aus meiner großen Höhe kann ich über Vals direkt an den Hinterrhein springen, doch von der Zervreila bis zu den Grauhörnern regt sich die Luft unter keiner Quellung. An der Ecke von Splügen steige ich mit Mühe 70 Meter in vier, fünf zähen Kreisen. Ab jetzt ist Geduld gefragt. Wäre ich nicht so früh dran, dann gäbe es hier längst kein Durchkommen mehr. Aus 3300 m gleite ich langsam und weit über die Via Mala an den Piz Grisch. Der Bart ist vom Nordwind spürbar verblasen, und in jedem anderen Teil der Alpen würde ich einfach sofort weiter fliegen. Doch das Engadin fühlt sich weiter entfernt an als jemals heute, und so halte ich die 0.8 m/s, bis in 3150 m wirklich nichts mehr zu holen ist. Wenn ich in jedem Bart tiefer raus geschmissen werde als im vorherigen, gehen die Alarmglocken an. Doch es hilft nichts, ich muss weiter nach Osten über die Julia, wohl wissend dass ich drüben schon tief unter Grat ankommen werde. Langsam wird es ernst.

Fünf Minuten später fädele ich 500 m unter dem Gipfel in die Nordflanke des Piz d’Err ein – die 20 km/h Wind reichen gerade so für eine schwarze Null am Hang. Es ist jedes Mal erstaunlich, wie schlecht die Gegend zwischen Vorderrhein und Engadin im Vergleich zu buchstäblich jeder anderen Region der Alpen zu fliegen ist. Kurz werde ich grantig, auch wenn ich nicht so richtig weiß auf wen oder was. Dann achtere ich weiter ohne Höhengewinn.

Es sind nur noch 15 Kilometer Luftlinie bis Samedan. Nur der 3100m hohe Julier-Block steht noch im Weg. Ich selber bin auf 2800. Die Strategie hinter langen Alpensegelflügen ist unglaublich unintuitiv – hier dreihundert Meter zu steigen könnte ein unlösbares Problem sein, aber die zweihundert Kilometer danach bis nach Hause wiederum werden einem mit Handkuss geschenkt. Das Gebirge ist ein Spielfeld mit seltsamen Regeln.

Nach fünf Minuten habe ich mich ich fünfzig Meter nach oben gegrantelt. Keine Ahnung, ob das einen Unterschied macht, aber weiter geht es auch nicht mehr, denn der Wind hat von Nord komplett auf schwachen West gedreht. Ich kann noch einen Kilometer an den Ostrand des flachen, runden Talschlusses fliegen, in dem ich so hänge. Mangels anderer Ideen suche ich die große Kurve einmal komplett ab, und sehe mich schon nach hinten ins Albulatal abdrehen. Es hebt leicht, aber fühlt sich nicht stärker an als vorher am d’Err. Ich ziehe die Wende und weiß nicht so recht, ob es sich lohnt zu bleiben. Doch der Blick auf den digitalen Höhenmesser zeigt, dass ich auf dem ersten Passus acht Meter gewonnen habe.

Der flache Talschluss ist breit und U-förmig und macht das Achtern zu einer krummen, technisch schwierigen Angelegenheit. Mit jedem Schlag komme ich jetzt zehn bis zwanzig Meter höher. So geht es zehn Minuten hin und her, bis ich mit gestrecktem Hals über den Grat schauen kann. Das Augenmaß bestätigt, was der Rechner längst gesagt hat: Wenn ich hier drüber komme, reicht es danach auch über den Albulapass, der das Tor ins Oberengadin ist. Da ich ungern völlig ohne Reserven über einen Grat lupfe, bleibe ich noch zwei, drei Schläge, und nach einer weiteren gefühlten Ewigkeit beschleunige ich mit 50 Metern Luft schräg über den Grat. Augenblicklich spüre ich, dass ich jetzt im Engadin-Wetterraum bin, denn über jedem Rippchen hin zum Albula heben sich plötzlich wieder kleine Thermikbläschen. Direkt über der Passhöhe geht es in zwei Schritten von 2900 zurück auf 3900 Meter. Um 17:15 passiere ich Samedan und kann die drei Bärte bis zum Endanflug schon vor mir sehen: Vom Quattervals über das Unterengadin bis zum Glockturm reihen sich die hohen Wolken eines späten Sommernachmittags. Ich gebe schon mal Bescheid, dass ich rechtzeitig zu Mamas Pizza da bin. Dann geht der Knüppel für den Endspurt nach vorne. Das Gebirge ist ein Spielfeld mit seltsamen Regeln, und offenbar liegt Königsdorf an manchen Tagen weniger als sieben Stunden von Puimoisson entfernt.


Insgesamt bin ich die große Traverse in diesem Jahr gleich viermal geflogen: Zweimal hin und zweimal wieder zurück. Abgesehen von den psychologischen Hemmungen und der Anforderung von gut 700 Kilometern mehr oder weniger lückenloser Geländekenntnis waren die Flüge objektiv nicht viel schwieriger als so mancher „normale“ Ostalpenflug. Vielleicht hilft es, wenn ich nochmal ein paar technische Stichpunkte darüber aufschreibe, die für mich bei der Umsetzung entscheidend waren:

  • Frühe Westabflüge aus den Ostalpen erfordern oft ein völlig anderes Level an handwerklichem Geschick als Ostabflüge oder Flüge, die schon im Westen beginnen. Fast unweigerlich wird man sich bei sehr schwacher Thermik in Lee-Situationen tief unter Grat im ansteigenden Gelände bewegen müssen. Wer in solchen Bedingungen zumindest nicht sofort absauft, hat sehr gute Karten nach Südwesten durchzukommen.
  • Ich sage es immer wieder, aber sogar diejenigen denen ich es schon oft erklärt habe machen es immer wieder intuitiv falsch: Der sinnvollste Hinweg in die Westalpen führt nicht über das Oberengadin, sondern biegt entweder schon im Paznauntal oder spätestens am Flüelapass nach Westen ab. Natürlich könnte man in Richtung Samedan noch 20 bis 50 km im guten Wetter weiter fliegen, muss dann aber quer zu den Geländelinien ohne Konzept zurecht kommen. Das funktioniert einfach nicht.
  • Auf dem Hinweg nach Südfrankreich kann man in der ersten Hälfte fast beliebig langsam sein, denn die zweite Hälfte ist planbar schneller und die französischen Alpen sind in der thermischen Brise gewissermaßen bis Sonnenuntergang aktiv. Dazu kommt, dass der Sonnenuntergang am Ziel knapp eine halbe Stunde später ist als bei uns im Osten. Mein ursprünglich gesetztes Limit von 14 Uhr am Flüelapass habe ich bereits beim zweiten Hinflug um 30 Minuten überzogen, ohne dabei am Ende in Probleme geraten zu sein. Völlig ad absurdum geführt wurde dieses Zeitlimit von Markus Schweiger, der bekanntermaßen am 06.07.2022 mit dem L-Spatz um 15:15 an dieser Stelle war, um dann um kurz vor 22 Uhr zum letzten Licht in St. Crepin zu landen.
  • In Kreisen der Südfrankreich-Stammgäste gilt der Bereich zwischen Bardonneccia und Aosta als das anspruchvollste und problematischste Gebiet. Aber gerade an Tagen, an denen es im Norden und Osten gut genug ist um bis dorthin zu fliegen, sind diese Stellen normalerweise eher einfach im Vergleich zu dem was weiter oben eigentlich Alltag ist.
  • Der Rückflug war bei mir in beiden Fällen über eine Stunde schneller als der Hinflug – einfach weil der Abflug bereits im besten Wetter und Gelände stattfindet, man das schwierige Gebiet um Graubünden mit sehr viel aufgebauter Zeitreserve vorsichtig zur besten Tageszeit durchqueren kann, und das Engadin als Route zum Endanflug nach Nordosten ja sehr robust funktioniert. Dieser Geschwindigkeitsvorteil gleicht den zwangsweise etwas späteren Start in Südfrankreich mehr als aus.
  • Der Knackpunkt für den Rückflug ist definitiv die Querung aus dem Wallis / Bedretto durch Graubünden, bis man Anschluss an die Engadin-Luftmasse hat. Auf meinem zweiten Rückflug, den ich in der obigen Geschichte beschrieben habe, gab es auf den 125 km zwischen Nufenen- und Albulapass eigentlich nur zwei Bärte (nämlich nahe beieinander am Lukmanierpass und am Piz Medel). Der Rest war übles Feilschen oft unter Grat um jeweils ein- oder zweihundert Höhenmeter. Damit man durchkommt, braucht man oft unendlich viel Geduld, und wer nicht vor dem Verlassen des Wallis um jeden Preis (selbst mit 1 m/s) die maximale Höhe gemacht hat, wird es nicht schaffen.
  • Völlig andere Varianten für die Verbindung der Ost- und Westalpen, die nicht durch Graubünden führen, sind natürlich nicht ausgeschlossen. Ein Beispiel dafür ist die Route von Lisa Scheller, die über den Malojapass ins Bergell und von dort aus über das Tessin ins Bedretto zu fliegen pflegt und damit eigentlich nie Probleme hat. Ein anderes Beispiel weiter westlich ist die Methode von Alessandro Busca und Gabriel Rossier, die beide zwischen Hinterrein / Tessin und Aosta gar nicht über das Wallis, sondern direkt südlich des Monte Rosa über Piemont fliegen. Allerdings ist immer wenn ich dort bin keine Spur von solchen Möglichkeiten zu erkennen – dies liegt aber wahrscheinlich eher daran, dass man oft nur die Dinge sieht, mit denen man auch rechnet.

Wie weit fort können uns die weißen Flügel an einem einzigen Tag tragen? Welche Gebirge können wir überqueren, und welche Sprachen wird man am anderen Ende sprechen? Es könnte immer wieder auf einen Versuch ankommen.

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Die große Traverse

Wenn ich richtig zähle, dann sind es jetzt über sechzehn Jahre. Das bedeutet, dass ich inzwischen einen weit größeren Teil meines Lebens mit Segelfliegen verbracht habe als zuvor ohne. Es heißt auch, dass ich jetzt über 30 bin (wenn ich die alten Texte lese, dann komme ich mir manchmal noch deutlich älter vor) – ein Alter, in dem ich nicht mehr komplett sicher sein kann, ob meine wichtigsten Meilensteine noch vor, oder doch bereits hinter mir liegen. Die allgemeine Statistik spricht eher gegen mich: Adams schrieb den „Hitchhiker’s Guide“ mit gerade mal 27. Kálmán machte seine wahrscheinlich wichtigste Entdeckung mit 29, und Dolores O’Riordan war erst 24, als sie für „No Need to Argue“ im Studio stand; kurzum: die meisten Personen die ich bewundere waren zur Zeit ihres größten Schaffens jünger, als ich es heute bin. Manchmal macht mich das etwas nachdenklich.

Aber das tolle an der Fliegerei ist, dass es möglich ist, mit der eigenen Erfahrung immer weiter mitzuwachsen. Und gerade in einer so emotional aufgeladenen Sportart wie Segelfliegen schadet es überhaupt nicht, den Flügen über die Jahre mit ein bisschen mehr Demut und Gelassenheit zu begegnen. Ich jedenfalls bemerke durchaus, dass ich Jahr für Jahr noch Fortschritte mache, die mir persönlich viel bedeuten.


Nicht Puimoisson, sondern Dornbirn


Dieses Jahr ermöglichte es mir der Ventus 2bx, die Thermik der nördlichen Westalpen nochmal völlig neu kennen zu lernen – ein Unterfangen, das ich bereits vor fast 7 Jahren im Rahmen des Matterhorn-Projektes begonnen hatte und das am 22.6.2017 mit dem deutschen Clubklasserekord der Zielrückkehrstrecke gipfelte. Ich weiß noch genau, wie ich auf einem der damaligen Versuche am Wendepunkt Matterhorn den (in diesem Fall zum Scheitern verurteilten) Rückweg nach Bayern antrat und in diesem Moment aus knapp 4000m Höhe über den Westgrat nach Süden ins Aostatal schaute, über dem in kristallklarer Luft die Wolken noch locker 500 Meter höher schwammen. An diesem Tag hätten sie mich ohne Zweifel weiter nach Südfrankreich getragen – ein Flug ohne Rückkehr, dessen auch nur theoretische Möglichkeit mich damals ziemlich überraschte und auf den ich weder logistisch noch mental in irgendeiner Form vorbereitet war. So wurde es nicht Puimoisson, sondern Dornbirn, wo mir spätnachmittags die Gewitter den Rückweg in die Ostalpen abschneiden sollten.

Die Möglichkeit eines Zielfluges in die Provence – möglichst mit komplettem Rückflug am nächsten Tag, um das logistische Problem elegant zu lösen – war ein Konzept, das mich seither fasziniert hat. Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr wurde ich geradezu besessen von der Idee. Es ging darum, meine fliegerische Heimatbasis Königsdorf auf dem Luftweg mit dem Ort zu verbinden, an dem vor elf Jahren mein erstes Sposo-Trainingslager so viele Feuer in mir entfachte, die heute noch brennen.

Und so dämmerte mir, dass im Westen noch einige offene Rechnungen auf mich warteten. Auch wenn ich das Matterhorn nun schon von Süden und Nordosten her erreicht hatte (also theoretisch bis auf die konkrete Überquerung des Walliser Alpenhauptkamms bereits den vollen Alpenbogen beflogen hatte), beschränkte sich meine Erfahrung zwischen Col d’Etache und Valpelline auf gerade eine Handvoll Flüge, weil ich immer nur im März und im September zum Training in Südfrankreich bin. Auch zwischen Hinterrhein- und Mattertal, dem definitiv schwierigsten thermischen Abschnitt der Alpen, hatte ich selbst nach all den Flügen von Königsdorf ins Wallis immer noch ein mulmiges Gefühl. Und das blieb jahrelang so, denn die Tage, um solch ein Vorhaben zu versuchen oder auch nur an den bestehenden Lücken zu arbeiten, sind rar. Was ich konkret suchte, waren drei Tage in Folge, die eine Verbindung der West- und Ostalpen zuließen. Ein Tag Hinflug, ein Tag Rückflug, und ein Tag Reserve im Falle eines nötigen Zwischenstopps. Nur einmal, am 27.06.2019, sah ich die Chance, packte hastig Zahnbürste und Unterhose in die LS1-f, war aber angesichts der Gewaltigkeit des Vorhabens schon beim Ausklinken mental so schlecht gerüstet, dass ich mehr oder weniger ohne Höhengewinn um 11:30 Uhr auf der berühmten Krün-Wiese landen musste. Bemerkenswert ist, dass der stets gelassene und bescheidene Markus Schweiger an diesem Tag, wenn auch mit großen Anfangsschwierigkeiten, mit der 17.4m-Glasflügel tatsächlich bis Barcelonette flog – und am nächsten Tag zurück. Ich hingegen hatte noch viel zu lernen.

Es dauerte nochmal ein paar Jahre, in denen ich es aus verschiedenen Gründen gar nicht erst versuchte, bis ich irgendwann urplötzlich begriff, warum ich in Krün gelandet war, und was das eigentliche Problem der Großen Traverse war, das es zu lösen galt. Es lag gar nicht im diesigen Vorderreintal, nicht im mächtigen Valpelline, auch nicht in der dunklen Maurienne: Das große Problem, die Alpen am Anfang eines möglichst dreitägigen Wetterfensters nach Südwesten zu überqueren, lag wie ein Hohn direkt vor unserer Haustür. Die Wetterfenster Mitteleuropas sind zumeist schmal und keilförmig. Greift der Hochdruck von Westen auf die Alpen über, wird er fast immer von kräftigem Nordwestwind begleitet, der aus der Restfeuchte einen unerbittlichen Nordstau zubereitet. Der Druck kann so schnell steigen wie er will, der erste Tag einer frischen Wetterlage wird in den bayerischen Alpen und in Tirol immer mit tiefer Basis, Nordwind und wenig Einstrahlung beginnen. Doch das allein wäre ja zu machen – oft genug üben wir das Fliegen bei tiefer Basis, und Nordwind kann bisweilen sogar ganz nützlich sein. Doch das Problem sind die ersten nördlichen Randberge – bei normalem Hochdruckwetter ideale Sprungbretter vom Alpenrand ins Hochgebirge – die sich nach einer abziehenden Störung einfach nicht ins System einfügen wollen. Ich erkläre mir das inzwischen so: Während unten weiterhin eine kalte Grundschicht lagert, die aufgrund des versperrenden Geländes auch nirgendwo hin ausgeräumt werden kann, wird es oben schon warm, so dass die Luft zu stabil ist, um frühe und robuste Thermik zu bilden. Die Alpenrandthermik ist gezwungen, übermäßig kalte Luft zu „atmen“, und erstickt dadurch ihren Aufstieg in der eigentlich guten Rückseitenluft. Die Geduld, durch diese oft über 20 km breite Barriere bis ins nächsthöhere System zu brechen, hatte mir bisher schlichtweg gefehlt.


Die Bedingungen sind so wie vor drei Jahren, aber diesmal bin ich gewappnet


So besteht das Abflugfenster fast jedes Traversen-Versuches aus einer Kombination solcher Probleme: Stabile Grundschicht, Restfeuchte, Nordwestwind. Und doch muss man sofort los fliegen, denn wenn man bis nachmittags wartet, kommt man nicht über den ca. 700 km langen Kurs, und wenn man auf den nächsten Tag wartet, kommt man möglicherweise am dritten Tag nicht mehr zurück, da man von der nächsten Störung im Westen oder von den Gewittern des zusammenbrechenden Hochdrucks in Graubünden verschluckt wird. Das grundlegende Problem der großen Alpentraverse ist es, trotz alledem den frühen Abflug zu meistern.

Am 17.06.2022 scheinen sich die Sterne aufzureihen. Es ist ein Freitag, in Königsdorf ist es ruhig. Um 9 Uhr sitze ich unter der Veranda und schaue in die grünen Vorberge, über denen wässrig die letzten Stratuswolken der abziehenden Störung wabern. Ich bin so in Ruhe, dass Markus mich fragt, ob ich heute denn gar nicht fliegen wolle. Ich nehme es als Kompliment und zeige still auf den Ventus, der vollbepackt und aufgetankt in der offenen Halle steht. Die Bedingungen sind so wie vor drei Jahren, aber diesmal bin ich gewappnet.

Um 10:30 schleppt mich Christian mit der Remo über Bad Tölz hinaus. Da ich den langen, unangenehmen Gleitflug über das Brauneck vermeiden und gleichzeitig meine gerade Distanz zum Ziel maximieren will, klinke ich so aus, dass ich von Nordosten her an die Tegernseer Berge gleiten kann. Der für einen Westabflug ungewöhnlich frühe Start gibt mir den Rückhalt, heute alle Zeit der Welt zu haben. Doch bin ich zu früh dran? Am Luckenkopf wird die Luft kurz lebendig, aber ich muss sofort weiter ziehen. Da am Fockenstein gar keine Wolke steht, gehe ich direkt an den Hirschbergsattel. 20 km/h Westnordwest reichen nicht für Hangaufwind, aber auch auf dem Grat regt sich überhaupt nichts. Ich treibe den schweren Ventus über die Bäume ins Lee und bin nur noch 1500m hoch. Vier, fünf Sekunden lang halte ich den Atem an, bis mich endlich der Leebart trifft. Mit 1 m/s geht es zerrissen auf 1900m. Ein ganz guter Einstieg, aber zu wenig um über das Isartal nach Westen zu gleiten. Über mir kommen und zerfallen einzelne zerbrochene Cu-Fetzen, die nichts mit den wenigen vorhandenen Bärten zu tun haben scheinen. Vorsichtig gehe ich ins Luv über den Auerkamp an ein frisches Wölkchen und bin sofort wieder auf 1600m herunter. Ich habe viel Zeit, sage ich durch die Zähne zu mir selbst und lasse mich wieder an den Hirschberg fallen. Diesmal trägt er im Luv, und mangels besserer Optionen sitze ich die 0.3 m/s aus, bis ich wieder über 1800m bin. Es ist fast halb 12, aber die Wolkenoptik und das Gefühl der unerhört stabilen Luft haben sich nicht geändert. Ich muss weiter ins Lee, wo weniger kalte Luft aus dem Flachland an die Berge geführt wird, die die Thermik von unten her erstickt. Hier oben steht der Leebart fast am Fuß des Risserkogel (ich wollte aber doch nach Westen!) – immerhin bringt er mich auf 2300m. Da das Rezept bisher funktionierte, treibe ich den Ventus noch weiter nach Süden auf die Blauberge an die erste sauber entwickelte Wolke. Aus 2500m steht mir das nördliche Karwendel offen. Da mir die verschwommene Optik in Richtung Soiern nicht gefällt, biege ich an der Fleischbank nach Süden ab, um mit Geduld den nächsten Leebart zu finden. Wieder ist es weniger als 1 m/s, aber ich brauche die Höhe: Vielleicht kann ich damit im Nordwind dem „bayerischen Parcours“ an den Kalkwänden entlang bis in die Leutasch folgen?

Sobad ich mich an die Felsen werfe, weiß ich, dass der Einstieg gewonnen ist. Der Wind ist hier fast Null (die Strömung staut sich einfach vor der riesigen Felswand), aber ich spüre deutlich wie auf einmal Energie in der Luft ist. Einige seichte Bärte kleben direkt in der Wand, und jenseits der östlichen Karwendelspitze gehen die Vario-Ausschläge erstmals kurz über 3 m/s. Ich achtere bis über den Grat und beginne zu kreisen, bis der Bart in 2500m im Lee zerplatzt. Bis zur westlichen Karwendelspitze kann ich jetzt meine Höhe im Hangflug halten. Auch der Wettersteingrat trägt schwach dynamisch auf der Nordseite, bis mich am Schachentalknick der Bart aus dem Luv zurück auf 2500m bringt. Nun ist es Zeit, nach Süden in die Leutasch abzubiegen. Die Wolkenoptik ist immer noch zerrissen und undurchsichtig, aber südlich der Mieminger lockt eine angenehm hohe Basis. In Erwartung an den nächsten zerrupften Leebart schießt der Ventus mit Rückenwind in einem Zug über den Wettersteingrat durch die Mieminger Scharte. Der Leebart im Inntal steht weit, weit südlich der Wand – ich muss fast bis an den Luftraum fliegen bis mich endlich das Steigen erfasst. Es ist 12:30 und der erste einigermaßen runde Bart des Tages bringt mich mit 1.6 m/s auf 3100m. Ich kann endlich behaupten, unterwegs zu sein.


Auch wenn ich es geschafft habe, den Abflug heute nicht zu vermasseln, läuft es nicht gut


Da Tschirgant und Venet undefiniert im Blauen stehen (scheinbar liegen auch im Oberinntal noch unsichtbare Reste der Störung), gehe ich den ungewohnten Weg direkt an den Acherkogel. Ötztal, Pitztal, Kaunergrat – jeder Bart bringt mich 100 Meter höher, bis ich schließlich in 3500m den Reschenpass sehen kann. Das Engadin ist meistens erst am Nachmittag gut, und ich weiß dass ich hier im hohen Gelände eigentlich zu früh bin – doch der Abflug hat gezeigt, dass heute nur noch die Zentralalpen überhaupt eine Chance nach Westen bieten könnten.

Wie erwartet ist das Unterengadin schwierig – ich verlasse in 3500m den stets guten Piz S’Chalambert, und habe fortan Mühe, meine Höhe im dynamischen Hangflug am Nuna vorbei bis zum Flüela zu verwalten. Kurz vor der Passhöhe mogele ich mich in einem zerrissenen Meter zurück auf 3000m, um überhaupt sinnvoll drüber springen zu können. Im Westen wehen verschwommene, weit auseinander stehende Cumulus-Fetzen über den Kämmen des Hinterreintals. Darüber ist das Licht bleich wie die Schneereste, die hier im Alpenhauptkamm dem aufkommenden Sommer trotzen. Die abziehende Störung hat zähe Cirrenfelder zurückgelassen, die einen hauchdünnen Grauschleier über das Gelände legen. Auch wenn ich es geschafft habe, den Abflug heute nicht zu vermasseln, läuft es nicht gut: Für die ersten 200 Kilometer habe ich dreieinhalb Stunden gebraucht.


Wie zu einer Fata Morgana quäle ich mich Grat für Grat nach Westen


Um die mentale Barriere aufzuheben und keine planerischen Grundsatzentscheidungen mitten aus den Emotionen des Fluges heraus treffen zu müssen, habe ich in der Vorbereitung einen strikten Entscheidungspunkt festgelegt. Ganz einfach, komme was wolle, wenn ich bis 14 Uhr über den Flüela bin, lande ich heute nicht mehr daheim. Als ich die Passhöhe und die Turbulenzen des wieder auffrischenden Nordwestwindes vom Wisshorn durchquere, schiele ich auf die Uhr: Es ist sechs Minuten vor zwei. Erleichtert schiele ich wieder auf die fahle Wolkenoptik am Hinterrhein. Gut, dass ich nicht weiter abwägen muss. Die Uhr hat es entschieden, und der Schlafsack klemmt hinter mir im Gepäckfach. Der Ventus fliegt nach Westen.

Der erste Grat jenseits des Flüelapasses bringt mich mit turbulenten 1.5 m/s zurück auf 3500m. In Richtung Piz Grisch reihen sich die krausigen Wolken, und erstmals kommt so eine Art Rhythmus auf, der mich an der Ecke des Hinterrheintals in 3000 m ohne größere Probleme einfädeln lässt. Die Leebärte auf der Talnordseite stehen zuverlässig aufgereiht, aber keiner ist stark genug um mich wieder bis an die Basis zu bringen. Kurz vor dem Talschluss in 3200m muss ich entscheiden, wie ich die letzten 70 Kilometer ins Wallis überbrücke: Gehe ich nach Norden über den Zervreila-Stausee an den Piz Medel, und bleibe damit weiter auf der leidlich bewährten Nordseite des Alpenhauptkammes, oder stürze ich mich über den Hauptkamm ins Tessin, um auf Direktkurs zu bleiben? Der Umweg der nördlichen Variante tut weh, zumal ich heute noch nie einen Stundenschnitt über 90 km/h hatte und immer noch gut 400 km nach Puimoisson vor mir liegen. Der direkte Weg nach Westen allerdings ist hinter dem riesigen Talschluss, der vom gewaltigen Rheinwaldhorn versperrt wird, nur schwer einsehbar. Mit jedem Meter, den ich weiter nach Westen fliege, wird der Knick nach Norden unrealistischer. Die letzte Wolke des Hinterreintals steht verlockend nur noch ein paar Grate weiter westlich. Ich weiß, dass sie meine letzte Chance ist, in dem einigermaßen homogenen Wetterraum, in dem ich seit der Flüela-Querung fliege, noch einmal die Basis zu kommen. Doch wie zu einer Fata Morgana quäle ich mich Grat für Grat nach Westen. Als ich erkenne, dass die Wolke in Wirklichkeit schon jenseits des Talschlusses von der italienischen Seite herauf weht, ist es schon zu spät um sinnvoll nach Norden abzudrehen: Jetzt muss ich wohl drüber. Mit knapp 150 m Reserve hechte ich über den Alpenhauptkamm. Die riesige Südflanke des Rheinwaldhorns glüht in der Nachmittagssonne, und direkt darüber steht die letzte Wolke des Graubündener Wetterraumes. Der Tag hat mich gelehrt, selbst mit 1 m/s zufrieden zu sein. Nach Westen ist alles blau. Mit jedem Kreis suche ich den fernen Horizont ab. Im Südwesten ragt der Monte Rosa aus dem Dunst, und nördlich davon schwimmen wieder einzelne hohe Fetzen, die irgendwo am Simplon beginnen müssten. Hätte ich doch im Norden bleiben sollen? Zu spät, jetzt darüber nachzudenken.

Ich kurble, bis mich die Flusen der südluftzerfressenen Basis umgeben. In 3500m richte ich auf und beginne ungewiss über das dunstgefüllte Tessin zu gleiten. Hier drin muss ich irgendwo 500 Meter steigen, dann reicht es schon über den Nufenenpass. Hoch über dem riesigen Grat des Molare tut sich gar nichts. Normalerweise würde ich jetzt aus Gewohnheit Ambri links liegen lassen, aber in Richtung Domodossola biegt meine Aufmerksamkeit auf die Gegenseite ab: Dort schwebt ein einzelner kleiner Wolkenfetzen, mindestens so hoch wie ich gerade – viel zu weit um hinzugleiten, und noch dazu in der falschen Richtung, aber es ist ein Zeichen. Die Lepontinischen Alpen sind wohl doch nicht so tot, wie sie in der bleichen Südluft aussehen. Als ich blinzele, ist das Wölkchen verschwunden.

Nach 20 Kilometern Gleitflug durch vollkommen stille Luft – normalerweise ein sicheres Anzeichen dafür, dass gerade die klassische Falle des Tessins über dir zuschnappt – fädele ich in 2800m auf Verdacht in den Grat des Monte Forno ein. Hier war ich noch nie. Genau über dem Gipfelkreuz scheint sich etwas zu heben. Die Luft fühlt sich erleichternd lebendig an, aber für den schwer betankten Ventus ist der Bart fast zu eng. Wenigstens ist hier mal kein Wind. Die 500 Höhenmeter kosten 500 lange Sekunden, doch mir soll es recht sein: Ab jetzt habe ich Endanflug auf den Nufenenpass, der mich ganz ohne Umweg ins Wallis bringt.

Um 15:30 schaue ich auf die Windräder hinab, die sich auf der Passhöhe kräftig im Nordwind drehen. Ich mag kaum glauben, immer noch fast auf die Minute genau im Zeitplan zu sein – das Durchschnittssteigen beträgt bisher ziemlich genau 1.0 m/s und ich habe das Gefühl, mehr oder weniger den ganzen Tag nur von erbärmlichen Leebärten zerhackt worden zu sein. Die dünne Abschirmung ist seit Stunden nicht weniger geworden. Viel Zeit zum Essen und Entspannen hatte ich heute auch noch nicht. Und doch fühle ich mich seltsam zu Hause, als ich an die pechschwarze Nordwestflanke des Blinnenhorns gehe und zum ersten Mal seit fast vier Jahren wieder die Luft des herrlichen Wallis einatmen darf.


Unter den Eisflanken des Dom komme ich mir in 4000 Metern lächerlich niedrig vor


Auch wenn das Oberwallis erstmal genauso blau aussieht wie das Bedretto, ziehe ich aus der Wand heraus in einem Zug auf 3300 m. Von hier aus steigt das Gelände bis zum Dom um 1500 Meter an, und der Nordwestwind hilft mir, im Luv der Giganten immer weiter mit zu steigen. An jedem Block mache ich zweihundert Meter dazu. Am Simplon steht das erste winzige Wolkenzeichen, das ich mir schon vom Rheinwaldhorn aus eingebildet hatte. Wenig später halte ich aus 3800 m auf den Balfrin zu, der als Eckpfeiler den Eingang ins Mattertal bewacht. Die Schweizer haben ihr Wahrzeichen sehr listig hinter dem Domfuß versteckt, so dass man reckenden Halses eine ganze Weile auf den Abzweig zu fliegen muss, bis sich endlich ein spitzer Zacken und wenig später das ganze prächtige Matterhorn über den Grat ins Sichtfeld hebt.

Die Aufwinde im Mattertal sind ein unvergessliches Erlebnis. Selbst an schwachen Tagen wie heute habe ich keine Probleme, endlich erfrischende zwei, später über drei Meter zu finden. Was auf der Karte aufgrund des extrem hohen Geländes wie die schwierigste Stelle der Alpen aussieht, ist mit solchen Bärten ein Kinderspiel. Direkt unter den Eisflanken des Dom komme ich mir in 4000 Metern lächerlich niedrig vor, aber nach Süden kann ich schon ins Aostatal schauen. Von hier aus könnte ich direkt über den Theodulpass gehen, aber die guten Entwicklungen beginnen erst weiter westlich im Valpelline. Der Col westlich des Matterhorns nach Italien ist fast 3600 Meter hoch, so dass ich erstmal respektvoll den Umweg ans Gabelhorn nehme, um erneut zu steigen. Diese Querung habe ich noch nie zuvor gemacht und bin froh über jeden Meter zusätzlichen Abstand zu den surrealen Eisbrocken, die es zu überfliegen gilt. Dann geht es mit viel Fahrt und knapper Höhenmarge erneut über den Hauptkamm.

Um 16:30 bin ich wieder auf der Südseite und bekomme prompt dieselben Lee-Turbulenzen auf den Deckel, die mich schon zuvor stundenlang geplagt haben. Der Ventus schießt das Valpelline herab; direkt oberhalb des Flugplatzes Aosta steht der Hausbart bis 3900 m. Hier im Süden hat die Sicht deutlich abgenommen und ich habe Glück, über dem Dunst trotzdem schon Entwicklungen im Val d’Isere zu sehen.

Die Querung zum Monte Fallere misslingt spektakulär: Ich verliere tausend Höhenmeter auf 20 Kilometern. Kurz habe ich wohl vergessen, wie wellen-intensiv das Aostatal auch bei mäßigem Nordwind schon ist, und die absteigenden Äste schlagen fast immer bis in die Konvektion durch. Auch nach einigem Mäandern gibt es kein Entrinnen, der Fallere selbst bringt ebenso nur Fallen, so dass ich mich kleinlaut nach Süden abdrängen lasse um tief unten am Paramont wieder neu anzufangen. Doch ich habe Glück und stolpere direkt über der Talmitte in einen starken Bart, der hier wohl vom aufsteigenden Teil der Welle nach oben gesogen wird. Schnell bin ich wieder auf 3500m und kann endlich in Ruhe die Südostwand des Mont Blanc betrachten, der mich noch einmal fast 1500 Meter überragt. Für einen Ostalpenflieger sind solche Dimensionen auch nach gelegentlichem Kontakt unbegreiflich, und so beeile ich mich lieber, auf den Grat vom Val d’Isere zum Lac de Tignes einzufädeln, wo trotz weiterhin sehr schlechter Sicht mit einigen wenigen, aber gut entwickelten Wolken der Weg nach Süden in die Maurienne vorgezeichnet ist. Um 17:15 überfliegt der Ventus die französische Grenze und kurz darauf die vorletzte Barriere nach Süden: den Col d’Iseran. Das Endspiel hat begonnen.

Im Anflug auf den Grand Roc Noir vergesse ich für kurze Zeit warum ich hier bin, und fliege den Westpfeiler so aggressiv an, als wäre ich vor zwei, drei Stunden in Serres oder Pui gestartet. Als der Bart nicht richtig durchzündet (wie so oft heute ist es nicht mal 1 m/s), gehe ich direkt aus dem Kreis und folge dem Grat zum Hauptgipfel. Hier ist das Steigen etwas stärker, aber wieder bin ich nach ein paar Kreisen versucht, einfach weiter zu gehen. Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich schon an dieser Stelle den Anflug auf den Col d’Etache zum Sprung in die Provence aufgebaut habe, und eigentlich ist alles wie immer. Gerade als ich aufrichten will, durchfährt mich die seltsame Realität: Heute früh bin ich in Königsdorf gestartet, und jetzt schaue ich wie in einer anderen Dimension völlig fremd auf Sollieres hinab. Nichts ist heute wie immer. Noch nie bin ich so lange am Stück in eine Richtung geflogen, und noch nie war ich so weit weg von jeglicher Rückholmannschaft. Heute ist nicht der Tag, um im Modanetal den Helden zu spielen. Also gehe ich zurück in den Kreis und verlasse den Grand Roc Noir erst, als in 3800m das Steigen fast auf Null zurück geht. Den Col d’Etache habe ich seit Tignes im Rechner, und seit ein paar Minuten habe ich Plus. Ich schreibe eine Nachricht nach Hause: „Ich schaffe es.“

Die übrigen 150 km sind lange einstudiert und werden trotzdem nie alt. Direkt über der Passhöhe des Etache wird die Thermik vertraut, stark und kernig. Schon während des Einkreisens dreht die Windanzeige von Nord auf Südwest. So richtig realisiere ich es erst, als ich Briancon sehe. Eigentlich gibt es im ganzen oberen Durancetal nur eine einzige richtige Wolke, aber die steht metergenau da wo sie hin gehört. In 3000m geht es mit Manövergeschwindigkeit direkt auf den Tete de Peyron. Kilometerlang verliert der Ventus kaum Höhe, dann kommt der Volltreffer, der mich mit 2.5 m/s nochmal tausend Meter höher hebt. Natürlich habe ich kurz überlegt, einfach im Hangniveau zu bleiben und den Flug artgerecht auf Augenhöhe mit der Brise zu Ende zu bringen, aber wieder überwiegt die Vernunft, jetzt nur nichts mehr anbrennen zu lassen. Um 18:15 Uhr habe ich Endanflughöhe. Guillaume, Serre-Poncon, Morgon, Dormillouse. Trois Eveches, Cheval Blanc. Coupe. Serre de Montdenier.

Und dann kommt nichts mehr.

Die Brise trägt noch bis knapp über den Gipfel der Serre, während unten auf dem Plateau die Schatten länger werden. Um 19:15 gleite ich in die Ebene. Das Wasser bleibt drin – morgen muss ich schließlich wieder zurück. Aber jetzt weiß ich ja, wie es geht. Eine Viertelstunde später setze ich den Ventus auf die 07R. Der Empfang der bunten Truppe, die am Ende der Bahn wartet, werde ich nie vergessen. Hände und Stimmen fliegen mir entgegen, als ich aus dem Cockpit klettere. Der Ventus wird festgebunden, auch Abendessen und Bett sind binnen Minuten organisiert.

Zwei Stunden später stehle ich mich aus dem Garten des Flugplatzhauses und wandere tief atmend durch die duftenden Lavendelfelder. Jahrelang habe ich mich gefragt, wie das wohl ist, nach der großen Traverse hier unten anzukommen. In meiner Vorstellung sind es immer zwei völlig getrennte Welten gewesen. Und doch brauchte es nur einen Flug, ganz in eine Richtung, neun Stunden lang, um für immer eine einzige daraus zu machen. Die Sterne hatten sich endlich aufgereiht, und nirgendwo könnten sie schöner nach und nach aus dem Dunkelblau hervortreten als in dieser warmen Juninacht über dem Plateau de Valensole.

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Der Tausend-Kilometer-Trick

Längst war es Herbst geworden am nördlichen Alpenrand. Die kalten, kurzen, grauen Tage, vor denen es insbesondere in einsamen infektionsgeschützten Mittagspausen wie an diesem Montag im Oktober wieder mal kein Entrinnen gab, schienen weiter die Überhand zu halten. Ich kaute lustlos auf meiner Breze, und klickte lustlos auf der Prognosekarte herum. Die Polarfront hatte eine leichte Beule über den Faröern gebildet. Ich klickte. Die 990er Isobare driftete weiter nach Süden. Ich klickte. Auf der 700 hPa-Höhenkarte ließ sich eine Trogachse nicht mehr ganz ausschließen. Ich klickte. Die Drucklinien über der Normandie rückten zusammen. Ich klickte. Der Wind in Mitteleuropa drehte auf Südwest. Ich klickte. Die Isobare schmiegte sich an beide Küstenlinien der Biskaya. Mein Herz begann zu hüpfen. Ich klickte. Dann tippte ich. „Vincent! Es wird Zeit, dass wir mal wieder 1000 km fliegen.“ Um der Sache Nachdruck zu verleihen, sendete ich gleich mehrere Lama-Emojis hinterher.

Abends begann ich, die Wetterlage etwas genauer auseinander zu nehmen. Die Föhnlage sollte sich am Freitag aufbauen, aber erst in der Nacht von Freitag auf Samstag richtig gut weden. Am Samstag Vormittag sah es nach höllischen Orkanbedingungen im Osten aus, während von Westen her der Regen ein frühes Ende vermuten ließ. Samstagnachmittag Frontdurchgang auch über die Ostalpen. Dann eine ruhige Nacht, aber am Sonntag ungewöhnlich weiter nachlaufender Südwestwind, der langsam in den übergreifenden Tiefdruck-Trog versinkt.

Wie holt man nun das meiste aus dieser Lage heraus? Der Freitag – wahrscheinlich kein Tag für einen Frühstart, und damit nur ein paar gute Flugstunden bis zur Dunkelheit. Der Samstag dafür gegen Mittag von der Front beendet, und vorher zu starker Wind. Der Sonntag im Osten noch fliegbar, aber eher schwach und undefiniert. Es wird wohl der Freitag werden müssen, dachte ich – aber so richtig wohl war mir nicht bei dem Gedanken, schon am ersten von drei möglichen Tagen mein Pulver zu verschießen.

Am nächsten Morgen hatte ich einen Plan. Vincent bekam mehr Lamas.

„Ich glaube, man kann am Samstag bei Sunrise vor der Front nach Osten abfliegen und dann abends im Osten landen. Und dann am Sonntag mit dem restlichen Wind nach der Front nach Hause fliegen.“

Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr Sinn ergab das alles. So waren auf jeden Fall die meisten Flugstunden aus dem starken Teil der Wetterlage herauszuholen. Nach einem weiteren Tag der Beobachtung war ich mir sicher, dass es einen Versuch wert war.

Das Problem: Keiner meiner wohl-vertrauten Copiloten hatte Zeit. Vor allem aus logistischen und mentalen Gründen hatte ich diesmal kein gutes Gefühl dabei, es auf einen Alleinflug ankommen zu lassen. Doch je mehr Leuten ich von meinem Plan erzählte, desto mehr beschlich mich das Gefühl, dass mir eigentlich gar niemand so richtig glauben wollte.

Natürlich fliege ich immer sehr gerne mit anderen Piloten, auch wenn ich sie (noch) nicht so gut kenne. Es gibt da eine lange Liste, und ich freue mich immer wenn es gelingt, jemandem im Arcus einen Flug zu ermöglichen, den er oder sie alleine nicht gewagt hätte. Aber einen Wandersegelflug im Föhnsturm zu machen, um eine Kaltfront zu umschiffen – das war technisch, körperlich und mental eine ganze Nummer über dem, was ich den meisten zumuten wollte. Daher überlegte ich lange, wen ich anrufen sollte. Dann traf ich eine – wie sich herausstellen sollte – sehr gute Wahl.


Um 06:30 kam Gerhard in den Briefingraum. Er machte kein großes Theater aus der Sache, er hatte alles dabei, was er brauchte, und er erweckte einen ruhigeren Eindruck als ich selbst. Mein karges Frühstück hinunter mampfend, gab ich ihm einen kurzen Überblick über die Infrarotbilder, die Windstationen im Süden und Osten, und das Regenradar. In 45 Minuten, mit dem ersten Sonnenstrahl, würden wir abheben. Und es sah wirklich, wirklich gut aus.

Es war mein erster Frühstart seit dem 4. März 2017 – die beiden Winter in Amerika hatten mich über viele Föhnlagen hinweg auf die Zuschauerränge gezwungen. Aber um 07:15 war es endlich soweit: Christian schiebt vorne in der Remo das Gas rein, und wir steigen langsam aus der völlig windstillen Bodeninversion heraus in den schwachen Nordwind, der unter dem Föhnstrahl am Alpenrand liegt.

In 500 Metern kommt der Südwind langsam durch. Ich habe erst wenige Ostabflüge im Föhn gemacht, weil ich mich davor scheue, im gleißenden Gegenlicht gegen die Sonne zu fliegen, und dann später meistens auch gegen die Abendsonne wieder zurück zu fliegen. Gute Sicht ist im Hochgebirge lebenswichtig. Aber heute geht es nicht anders, und einen Heimflug wird es ohnehin nicht geben. Schon im Schlepp sehen wir jenseits des Wettersteins, wie das Inntal von Westen mit überschwappendem Regen gefüllt wird. Der Tag ist erst wenige Minuten alt, aber wir sind keinen Augenblick zu früh dran. Als ich über Vorderriss in 2700 m ausklinke, weiß ich, dass wir Königsdorf heute nicht mehr wieder sehen werden.

Der erste Aufwind über der Isar ist zäh und unangenehm. Die Windböen gehen über 150 km/h, und ein einziger Fehltritt meinerseits vernichtet binnen Sekunden die ersten paar hundert Höhenmeter, die wir gegen den Mahlstrom gewonnen haben. Schräg über uns kochen die Hebungswolken. Es ist unmöglich, in den Aufwindböen seitlich zu pendeln, weil der Sturm uns sofort nach hinten ins Lee treiben würde. Jeder winzige Fehler – und ich mache nach drei Jahren Föhn-Pause relativ viele davon – kostet Minuten.

Endlich sehe ich in 3100 m die Lücke ins Risstal. Der Arcus marschiert mit 200 km/h nach Südosten, aber wir bekommen nur 70 km/h über Grund. Wer hier keine tragende Linie erwischt, muss augenblicklich umdrehen, bevor er unten zwischen den Felsen verloren geht. Knapp gelingt es mir, nicht mehr unter die Wolkenbasis zu fallen. Die Turbulenzen sind stark, aber beherrschbar. Ab und zu ergattern wir hundert Meter Höhe vor einer frischen Wolkenfluse, aber ruhiger wird es nicht. Rechts neben uns macht das mächtige Karwendel die Regeln, und nach denen müssen wir spielen.

Dann sehen wir den Achensee. Ich schalte den Transponder ein und gehe auf Innsbruck Radar. Der Lotse hat schon auf uns gewartet. „D-KTAA schönen guten Morgen Squawk VFR identified, eastbound cleared FL160 or below”, tönt es in melodischem Tirolerisch. Die Corona-Krise hat eben auch ihre positiven Nebenwirkungen.

Über dem Inntal wird der Aufwind endlich stark und laminar. In einem Zug steigen wir durch 4000 Meter, dann pressen wir über die Wildschönau nach Südosten. Eine gute Stunde nach dem Start sind wir auf dem besten Weg. Die sekundäre Tauernwelle steht genau nördlich des Pinzgauer Spaziergangs und ist klar von zerbrochenen Hebungswolken gezeichnet. Der Wind hat abgenommen und beträgt hier in 4600 m nur noch knapp 100 km/h. Eine winzige Westkomponente schiebt uns zusätzlich an, so dass wir mit 200-300 km/h nach Osten rasen. Seit dem Achensee haben wir keine einzige Turbulenz mehr gespürt. Als wir Zell am See passieren, übergibt uns der Innsbrucker Lotse an Wien. Vorsichtig erkläre ich meinen Plan, final in Niederöblarn zu landen. „Aber vorher fliegen wir noch ganz oft zwischen Innsbruck und Wien hin und her.“ Der Lotse muss sich seinen Teil gedacht haben, lässt uns aber unterhalb FL160 jeden Freiraum, den wir benötigen.

Südlich des Ennstals überqueren wir vorsichtig ein breites, tiefes Wolkenfeld, um in die Primärwelle der Niederen Tauern vorzudringen. Bei Föhnbedingungen bin ich hier noch nie geflogen, aber aus der Analyse weiß ich, dass diese Welle oft dem Palten-Liesingtal nach Südosten folgt. So ist es auch heute. Während rechts von uns tief unten ein geschlossenes Wolkenmeer das Grazer Becken verdeckt, lässt sich – wenn man es weiß – eine hauchzarte Föhnlücke bis Leoben erahnen. Die Welle genügt gerade so, um bei unserer hohen Geschwindigkeit nicht zu sinken. Zwei Stunden nach dem Ausklinken wenden wir bei Kilometer 275 im Osten, als sich die Welle am südöstlichen Alpenrand verliert.

Der Rückweg mit Gegenwindkomponente ist etwas schwieriger. Ich zeige Gerhard, wie man per GPS seine eigene Spur vom Hinweg nutzen kann, um das Steigen gezielter zu finden. Mit diesem Vorteil bewaffnet, schaffen wir es im Geradeausflug wieder bis ins Ennstal. Hier hat sich die Wolkensituation in der letzten Stunde stark verändert: Die Primärwelle der Tauern scheint sich durch den starken Wind bis über das Tal hinweg auszudehnen, so dass unser Hinweg – die sekundäre Welle – jetzt bereits über den nördlichen Kalkalpen liegt. Ich ziehe ein paar Schleifen im starken Steigen, um mehr Übersicht zu bekommen. Bei so starkem Wind ist es entscheidend, so zu fliegen, dass man eine stromaufwärts gelegene Position nicht grundlos aufgibt. Daher ist klar: wir bleiben in der primären Welle!

Der Wechsel gelingt ohne Probleme. Der Wind ist nun wieder um 140 km/h stark und bremst uns deutlich. Dennoch passieren wir im Geradeausflug den Pongau bis in den Pinzgau. Aus unserer Höhe können wir bis Innsbruck schauen, doch wir sehen im Westen nichts außer eine weiß-dunkle Wand aus Schneefall und Regen. Die Front hat sich in Bewegung gesetzt. Es ist 11 Uhr, und schon jetzt wäre der Rückweg nach Königsdorf problematisch. Nun brennt die Frage, wie lange der Osten, auf den wir stattdessen gesetzt haben, heute frei bleiben wird.

Am Pass Thurn sehen wir, wie die Tauernwelle über dem Gerlos vor unseren Augen kollabiert und ein tausende Meter hoher Schwall aus Regen und Schnee mit 150 km/h über den Alpenhauptkamm herunter schmettert. Die Föhn-Whatsapp-Gruppe weiß was wir vorhaben, und versorgt uns in Echtzeit mit Wetter- und Verkehrsinformationen. Der Weg nach Westen scheint hier zu enden. Wir setzen die zweite Wende nach gut dreieinhalb Stunden Flug und knapp 500 Kilometern Strecke.

Der dritte Schenkel ist mehr oder weniger eine Kopie des ersten. Bei Radstadt schickt uns der Wiener Controller für fünf Minuten unter FL130, um IFR-Verkehr durchzuschleusen. Für uns bedeutet das eine Vollbremsung, weil ich in dieser Höhe keine Chance sehe, im durchgehenden Wellenband zu bleiben. Also ziehen wir die Klappen, suchen lokal nach dem Punkt des besten Steigens, und warten auf den erneuten Startschuss. Nach wenigen Minuten dürfen wir wieder hinauf, und die Raserei geht weiter.

Mit teils über 300 km/h geht es zurück bis Leoben. Wir bleiben diesmal permanent in der Primärwelle der Tauern, die durch den extrem starken Wind weit über die Ausläufer des Hauptkamms hinaus nach Norden gedrückt wird. Die Feuchtigkeit im Vergleich zum frühen Morgen hat drastisch zugenommen – manchmal sind wir für ein paar Minuten nicht sicher, welche der mageren Wolkenlücken flach vor uns denn nun die richtige Fortsetzung der Welle sei. Teils erinnere ich mich an den „Blindflug“ durch das Susatal mit Vincent vor vier Jahren.

Doch wir bleiben in der Primärwelle und setzen um 12:30 die dritte von fünf Wenden kurz vor Leoben. 650 Kilometer sind geflogen. Beim Blick nach Norden fällt uns auf, wie kräftig und klar sich die sekundären Wellenbänder nördlich neben uns auftürmen. In diesem Moment wissen wir noch nicht, wie wichtig diese in ein paar Stunden für uns werden würden.

Wenn wir tausend Kilometer erreichen wollen, müssen wir jetzt noch ein einziges Mal so weit wie möglich nach Westen. Schneidet uns die Front jetzt zu früh den Weg ab, dann reicht der verbleibende Raum in den Ostalpen nicht für diese Distanz aus.

Um 13:25 passieren wir die Tauernautobahn nach Westen, und sehen das, was ich befürchtet hatte: Der Kollaps der Primärwelle, den wir auf dem letzten Leg am Pass Thurn erlebt haben, hat sich ungebremst nach Osten fortgesetzt. Zell am See ist bereits verschluckt – nur der Norden ist noch frei. Noch einmal steige ich im gesunden Teil der Welle auf 4500 m, dann beiße ich die Zähne zusammen und biege nach Norden. Es tut weh, eine so gute Position in der Primärwelle aufzugeben. Aber es geht nicht anders.

Ich mache mir Sorgen, ob die Kaltfront den Föhnzusammenbruch so schnell nach Osten treibt, dass sogar unser Ziel Niederöblarn bald nicht mehr anfliegbar ist. Wenn es so weiter geht wie bisher, dann bleiben nur noch wenige Stunden.

Der absteigende Ast wäscht uns unter die 4000 m. Der Wind ist immer noch 140 km/h stark. Ich bin gespannt, was uns im Luv der Kalkalpen erwartet. Der Hochkönig steht windgepeitscht zwischen Schneewehen und Hebungswolken. Er bringt uns zurück auf 4100 m, darüber ist wegen Wolken Schluss. Ich quere das Tal von Saalfelden nach Westen. Unversehens beginnt es kräftig zu regnen – natürlich nicht von oben, sondern von der Seite, aus dem kollabierten Pinzgau heraus. Der Strahl aus Luft und Wasser peitscht auf die Leoganger Steinberge, aber für uns reicht es kaum für vermindertes Sinken. Noch sind wir 3700 m hoch, aber ich will es nicht darauf ankommen lassen. Bei solchen Bedingungen von unten wieder herauf zu kommen, ist sicher fast unmöglich. Jetzt muss es reichen. Ich wende im wahrscheinlich letzten möglichen Moment. 13:46 Uhr, 800 Kilometer geflogen.

Der Flug zurück vorbei am Hochkönig ist die Hölle. Die Wolkenbasis sinkt so schnell ab, dass man es mit bloßem Auge sehen kann. Der Regen prasselt gegen die Haube. Die Turbulenz ist enorm. Immer noch sind wir mit 3300 m komfortabel hoch, aber ich sehe noch keine zusammenhängende Lücke zurück nach Osten. Kurz überlege ich, ob ich mich über den Hochkönig nach Norden ins Lee stürzen soll, jetzt wo ich gerade noch hoch genug bin – dort lockt die tertiäre Welle, aber mein Respekt vor den dortigen Turbulenzen ist zu groß. Ich bleibe im Luv, bohre nach vorne unter den dunklen Wolken am Hochkönig. Es schüttelt, es steigt, es sinkt, es regnet.

Endlich wird es wieder hell. Vor uns liegt Bischofshofen. Der Südwestpfeiler des Hochkönig liefert ein sattes Luv. Aus nur noch 2700 m geht es zurück auf 3200 m. Der Wiener Fluglotse klärt für uns den Durchflug des Salzburger Anflugsektors. Noch ist unser Problem nicht gelöst, auch wenn der Weg nach Osten zunächst wieder frei aussieht: Die Front sitzt uns eng im Nacken, und wir müssen dringend zurück in die Welle.

An der Bischofsmütze spült uns der Wind wieder ins Luv. Von 2500 m steigen wir in engen Achten auf 3200m. Auch wenn die Wolken einen Welleneinstieg suggerieren, finde ich ihn nicht sofort, und dränge weiter zum Dachstein. Wieder runter auf 2500 m. Der Hang geht, aber mehr auch nicht. Die Turbulenzen sind so stark, dass es keinen Spaß mehr macht. Ich taste mich ins Tal, einfach damit es ruhiger wird. Nächste Chance: Grimming. Exakt über dem Flugplatz Niederöblarn, auf dem wir später landen wollen, stolpern wir endlich wieder in sattes, ruhiges Steigen. Durchatmen. Eine halbe Stunde später sind wir in 5000 Metern über Aigen und bereiten uns auf einen letzten Schlag nach Osten vor. Es ist 15 Uhr.

Per WhatsApp bestätigt uns Philipp Stahl, dass wir auf dem vorherigen Leg im Norden keine Gespenster gesehen haben: Während die Hauptkammwelle nun auch an den Niederen Tauern Auflösungserscheinungen zeigt und das Palten-Liesingtal ohne Föhnlücke unter dichten Wolken verschwunden ist, liegt jetzt im Lee vom Hochschwab die beste Linie über dem Mariazeller Land.

Kleinlaut frage ich beim Wiener Fluglotsen nach mehr Freiraum nach oben. Nach einigen Rückfragen klärt er uns bereitwillig bis FL195. Dann lasse ich mich mit Rückenwind nach Norden an die Wolkenmauer über den Pyhrnpass treiben. Wie weit wir nach Osten fliegen? Der Tag ist noch lang, aber ich traue der Front nicht, die hinter uns her ist und uns jederzeit den Rückflug nach Niederöblarn abschneiden könnte. Bisher war der Regen jedesmal schneller, als ich befürchtet hatte. Daher entscheide ich, nicht ganz bis Wien durchzuziehen, sondern die letzte Wende so zu setzen, dass wir mit 1100 Kilometern in Niederöblarn ankommen.

Die Welle des Mariazellerlandes steht ausgeprägt wie im Bilderbuch. Sie schießt uns in einem Zug auf 5500 Meter. Ein letztes Mal rasen wir mit Rückenwindkomponente nach Osten. Bald darauf überfliege ich zum achten Mal in meinem Leben die 1000-Kilometer-Marke. Um 15:40 wenden wir genau im Lee der Veitschalm in 5300 m. Nun gilt es, noch die letzten hundert Kilometer gegen den Südwestwind bis Niederöblarn zu pressen. Besorgt schaue ich zurück nach Westen. Es ist bedeutend dunkler geworden. Wieder folgen wir unserer eigenen GPS-Spur vom Hinweg. Diesmal ist die Gegenwindkomponente stärker – um vorwärts zu kommen, müssen wir so schnell fliegen, dass wir nicht mehr steigen. Langsam schmilzt die Höhe dahin. Ground Speed: 110 km/h. Na immerhin.

Wien Information meldet sich im Funk mit einer Wetterwarnung für die Niederen Tauern. Starker Wind und Regen wird gemeldet. Ja, das wissen wir, und haben es im Blick, beruhige ich ihn. Oder vielleicht mich selbst.

Nach kurzer Zeit sehe ich auf Kurs kein Land mehr. Nördlich ist natürlich alles frei, die Ausweichflugplätze von Scharnstein, Mariazell und Linz sind problemlos erreichbar. Aber um einen idealen Rückflug für morgen zu ermöglichen, müssen wir weiter ins Ennstal.

Am Ende der Föhnlücke, die sich zu schließen scheint, halte ich ein letztes Mal an und bringe uns zurück auf 5300 m. Benötigte Gleitzahl auf Niederöblarn: Eins zu elf. Wenn die hereinziehende Front nicht wäre, dann wäre es idiotensicher.

Die ersten 20 Kilometer ins Luv der Haller Mauern kosten 2000 Meter Höhe. Manchmal über, manchmal zwischen, manchmal unter den vielschichtig zerbrochenen Quellwolken bohre ich gegen den Wind vor in Richtung Ennstal. Teilweise regnet es. Wenn ich nicht genau wüsste, dass ich nur eine 180° Kurve fliegen müsste, um in einer Minute mit 140 km/h Rückenwind wieder in die Sonne und ins Steigen gespült zu werden, hätte ich jetzt ein bisschen Angst. Aber ich weiß, dass ich noch nicht aufgeben muss. Ich weiß exakt wo ich bin, und die Wolken werden zumindest nicht schlimmer. Irgendwann ruft Gerhard „Da vorne! Da ist Sonne am Boden!“. Ich stimme ein. „Sonne! Sonne im Ennstal! Das ist Aigen in der Sonne!“.

Ich passe den Kurs an. Ich kann am Horizont sehen, dass der Flugplatz Aigen definitiv anfliegbar ist. Aus unserer Höhe erreichen wir ihn sicher. Zwar wäre eine Landung in Aigen eher ungeschickt (es ist ein Militärflugplatz, und morgen ist Sonntag), aber mit dieser Option in der Hinterhand besteht nun kein Sicherheitsrisiko mehr, uns auf das Ennstal zu fixieren und die Option des Umkehrens nach Norden loszulassen.

Am Pyhrnpass fädele ich in nur 2000 m MSL in die Luvhänge an der Talnordseite ein. Der Wind ist etwa 70 km/h stark, aber durch den vielen Regen ist die Luft so stabil, dass sie lieber um die Berge herum statt oben drüber fließt. Leidlich strecken wir unseren Gleitpfad und erreichen die Platzrunde von Aigen in 1600 m MSL. Der Blick weiter taleinwärts ist dunkel. Es ist schwer einzuschätzen, ob das 12 Kilometer entfernte Niederöblarn noch anfliegbar ist. Ich melde mich von Wien Information ab und bedanke mich für seine Geduld, und beruhige ihn, dass wir eine sichere Landung in Aussicht haben. Dann funke ich nach Niederöblarn und bitte um Wetterinformationen. Ich halte den Atem an.

„Windstill, leichter Nieselregen am Platz, aber es scheint sogar ein bisschen die Sonne“, sagt der Flugleiter in Niederöblarn. Ich nehme sofort Kurs. Der Vorhügel des Grimming trägt, so dass wir 1600 m konstant halten. Irgendwann sehen wir die Piste. Der Wind hier am Rand der Kaltfront hat in Bodennähe auf 30 km/h abgenommen. Der starke Regen steht ungefähr fünf Kilometer taleinwärts. Es ist 16:45 Uhr. Wir haben es geschafft.

Am Boden werden wir wieder daran erinnert, dass längst tiefster Herbst ist. Die Hallen sind geschlossen, nur wenige Leute sind am Flugplatz Niederöblarn vor Ort. Aber wir werden nett begrüßt und bekommen alles was wir brauchen: Eine Pizza, und zwei Zimmer mit Dusche für eine Nacht. Wir sind beide total durcheinander, als wir mit den Fallschirmen auf dem Rücken und den Batterien in der Hand die Stufen der Flugplatzherberge hinauf steigen.

Am Abend geht die Front durch, aber außer ein paar kräftigen Regenschauern passiert nicht viel. Der Südwestwind bläst weiterhin und drückt im Lee der Niederen Tauern von oben auf das Wetter, so dass sich keine schlimmeren Zellen bilden. Erst als die Front gegen 21 Uhr Wien erreicht und nicht mehr durch den Föhneffekt geschwächt wird, entlädt sie als Gewitter-Monster ihr volles Potential. Zur gleichen Zeit gehe ich noch ein wenig im Dorf spazieren und sehe hoch über den Tauernfelsen schon wieder sternklaren Himmel. Ich schmunzele. Der große Plan könnte tatsächlich funktionieren.


Bei Sonnenaufgang weckt mich ein schreiender Esel vor dem Fenster. Eigentlich wollte ich ausschlafen – es sind ja nur 200 Kilometer zurück nach Hause. Aber der Anblick des strahlend blauen Himmels, der sich über der fantastischen Kulisse des steilen Grimming abzeichnet, macht mich dann doch wach. Zuerst schaue ich nach den Windstationen und atme auf: Der versprochene Südwestwind ist geblieben – wenn auch deutlich schwächer als gestern. Irgendwie kommen wir schon heim.

Vor dem Start beraten wir uns kurz mit Robert Zinnecker aus Wiener Neustadt, der ebenfalls zum Föhnfliegen gekommen ist. Ein gutes Zeichen. Um halb elf schleppt uns die Remo an den Grimming. Ab 1300 m beginnt der Südwind, in 1650 m sind es schon 30 km/h. Ich klinke aus und gehe in den angenehm ruhigen, konstanten Hangaufwind. Nach ein paar Achten gewinne ich Vertrauen in den nachlaufenden Föhn. Ich frage Gerhard, ob er uns heute nach Hause fliegen möchte. Und er möchte. Ich habe mir eine Pause verdient.

Es wird nochmal ein richtig guter Flugtag. Anders als gestern sind die Wellen brüchig und schwach (die Luft ist deutlich labiler), aber dafür gesellt sich zum moderaten Hangaufwind ab Mittag auch noch Thermik. Um 12:30 sind wir am Kaiser und könnten eigentlich zum Mittagessen zu Hause sein. Aber so richtig können wir beide noch nicht loslassen. „Komm, wir fliegen nochmal zurück zum Grimming!“. Mit 120 – 150 km/h hüpfen wir die Rennstrecke der nördlichen Kalkalpen noch einmal entlang. Starke Thermik bis 3 m/s hilft uns, die sonst so schwierigen Lücken zu überqueren. Es ist der 4. Oktober, aber die Luftmasse ist besser als an manchem Sommertag. Ich lehne mich zurück, gebe Tipps, schimpfe manchmal ein bisschen, und dirigiere Gerhard durch die Felsen. Er fliegt wirklich gut – als wir zurück am Dachstein sind, muss ich fast gar nichts mehr sagen.

Um 13:45 wenden wir im Osten am Pyhrnpass. Dann bringen uns die sonnigen Felsen und der schwache Südwestwind ein letztes Mal über die Kalkalpen nach Westen. Um 15 Uhr erreichen wir wieder den Wilden Kaiser. Das antreibende Tiefdruckgebiet im Westen ist deutlich spürbar – hohe Wolkenfelder machen die Thermik kaputt, und schon wieder beginnt es südlich im Pinzgau zu regnen. Es wird Zeit, nach Hause zu fliegen.

Ich übernehme wieder und bringe den Arcus im sehr schwachen Hangaufwind zurück auf 2700 Meter. Das müsste knapp reichen. Der Gleitflug tief durch die Tegernseer Berge bei Föhn ist ungemütlich, aber ich habe das vor fünf Jahren schon einmal mit Maria durchgespielt. Genauso wie damals klappt es jetzt wieder: Im Luv der Maroldschneid bleiben, dann am Spitzing hinaus über den Tegernsee. Dort ist plötzlich Nordostwind. Die Wolkenbasis draußen im Flachland liegt zerbrochen in nur 1200 m. Von oben suchen wir uns einen Weg durch das Wolkenmeer und sehen bald Königsdorf. Als wir ausrollen und die Haube aufmachen, schüttele ich mit dem Kopf. Es hatte tatsächlich funktioniert…


Insgesamt sind Gerhard und ich an diesen beiden Tagen über 1600 Kilometer weit geflogen. Ich würde nicht einmal sagen, dass die Lage außergewöhnlich gut war. Die Windstärke von regelmäßig bis 150 km/h am Samstag, und der enge Flugraum mit der hereinfahrenden, unberechenbaren Front hat die Sache schon sehr negativ beeinflusst. Allerdings hatte es auch etwas Gutes: Die Möglichkeit eines zweiten Föhnfluges nach der Front in Rückseitenbedingungen ist extrem selten, und ich bin froh, sie genutzt zu haben. Und das ist für mich eigentlich die Moral aus dieser Geschichte: Es ist nicht immer nur das beste Wetter oder die fliegerische Leistung, die zählt (ich glaube, dass ich am Samstag nicht einmal so herausragend geflogen bin – immerhin war es nach einer sehr langen Pause mein erster Föhnflug). Sondern oftmals ist es nichts weiter als die passende Idee zur richtigen Zeit, die wirklich den Unterschied macht. Und das ist es, was mich am Segelfliegen auch nach all den Jahren noch genau so fasziniert wie am Anfang: Das in jedem Tag versteckte Rätsel um den perfekten Plan.

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Das Matterhorn-Projekt

Mein Großvater war ein verblüffender Mann. „Der Pu“, wie er in unserer Familie schlicht immer genannt wurde (niemand konnte so ganz genau sagen warum), hatte in seiner Zeit auf Erden vieles erlebt – Gutes und Schlimmes, Zufälliges und Gemachtes, Großes und Kleines.

Ich erinnere mich an seine Geschichte vom Matterhorn, die er mir einmal erzählt hatte, als ich noch ein Kind war. In Zermatt sind sie gewesen, den Nordostgrat (das ist die Normalroute, der sicherste Weg auf den Gipfel) wollten sie nehmen. Dann aber müssen sie einer jungen Dame, der Bäckerin im Dorf, begegnet sein, die ihnen ausgerechnet erzählt hat, erst gestern den „Hörnligrat“ bis zum Gipfel gegangen zu sein. Das mache sie ganz häufig, so wie es ein Zermatter Mädel eben einfach tut. Die Begegnung ging ihnen nicht mehr aus dem Kopf. Wenn jetzt schon die Mädchen den Hörnligrat nehmen, dann gehen wir natürlich anders.

Wie mein Großvater und sein Kumpane, die beiden jungen Männer, dann also durch die haarsträubende Ostwand steigen mussten, wo jegliche Katastrophe vorprogrammiert war, mit mangelhaften Hanfseilen und unzureichender Vorbereitung, wo man sich eigentlich nur an die Stirn fassen kann, das kann ich im Detail gar nicht mehr rezitieren. Oben waren sie dann jedenfalls. Und nicht auf dem Weg, den sogar die Bäckerin aus Zermatt gehen konnte. So war er, der Pu.

Vor einigen Jahren ist der Pu gestorben. Mir ist erst danach klar geworden, dass ich die Chance, ihn noch einmal nach seiner Matterhorn-Geschichte zu fragen, für immer verloren habe.

Vielleicht war es auch deswegen, dass ich im Winter des frühen Jahres 2016 beschlossen habe, meine eigene Geschichte vom Matterhorn zu machen. Ganz ohne Bäckerin, auch ohne dass mir in der Ostwand das Seil ausgeht, aber dafür eben mit meinen eigenen Mitteln.


So kam es, dass ich in dieser Zeit zum ersten Mal seit Jahren wieder anfing, neue Berge auswendig zu lernen. Von Süden her hatte ich den „Mont Cervin“, wie man das Horn auf der französischen Seite nennt, schon ein paarmal aus der Nähe sehen dürfen – der Anflug aus der Provence über die Maurienne und das italienische Aostatal ist anspruchsvoll, aber mit etwa 200 Kilometern Abstand relativ kurz. Er wird an guten Sommertagen fast täglich beflogen. Aus der Perspektive von „zu Hause“ am Nordrand der Ostalpen hingegen ist es fast doppelt so weit dorthin. Der Weg war für mich bis dahin nur ein großer weißer Fleck auf der Karte, in den ich mich noch nie richtig hinein getraut hatte.

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Es gab recht vieles, was ich nach mehreren tausend Stunden Gebirgsflug in allerlei Flugzeugen und von allerlei Startplätzen aus zu wissen glaubte. Ich fand, dass in den Alpen zwischen Wien und Nizza schon fast jede Falle einmal über mir zugeschnappt war. Ich bin schon am hellichten Tag in Mittersil bei den Kühen gelandet, habe am Rande der Dolomiten die herrlichsten Dreiecke vergeigt, kenne unfreiwillig das gesamte Inntal von der Quelle bis zum Ausgang unter Hanghöhe. Ich weiß wie es ist, wenn einen die Hagelgewitter zwischen Sisteron und Saint Auban plötzlich hinunter auf ein rauhes Lavendelfeld zwingen. Ich kenne die tote Luft von Modane und den verkehrten Wind vom Maloja. Die harte Schule des Alpensegelfluges hat mich lernen lassen, was immer ich nur wissen und ausprobieren wollte. Es war an der Zeit, die letzte Lücke zu schließen, die Brücke zwischen den Ost- und den Westalpen zu schlagen. Eventuell der schwierigste Flug der Alpen: Aus Bayern zum Matterhorn und zurück.

Ich fragte viele Leute um Hilfe. Die offenste Unterstützung kam, wie so oft, vor allem direkt aus der Schweiz. Yves Gerster erklärte mir alle Details rund um das sagenhafte Hochalpengebiet der Walliser Alpen. Wo oftmals ein „Schlauch“ zu finden sei. Wie man notfalls an den Flugplätzen an der Rhône die „Volte“ zu fliegen habe. Wie man insbesondere im schwierigen Mattertal unter Grathöhe zurechtkommt. „Und unter Grat wirst da jedenfalls sein. Den Dom hat selten einer von oben gesehen.“

Das Wallis an sich erschien mir nach einiger Zeit mit Yves und den Karten eher ein mentales als ein orographisches oder meteorologisches Problem. Es ist halt einfach verflucht weit entfernt. Aber welche Wege dort hin führen, wie man aus Deutschland, Österreich, ins Hinter- oder Vorderrheintal, über Andermatt und Ambri und den Furkapass fliegen kann – das fand ich auch nach ewigen Diskussionen und Recherchen sehr unübersichtlich. San Bernardino, Oberalbstock, Gotthard, Nufenen, Simplonpass. Beim Blick auf die Karte ergibt sich einfach keine eindeutige Streckenführung. Denkt man erst an die Luftmassengrenzen und die feuchten Strömungen, die von den vielen Seen im Norden und Süden hereingeführt werden, dann ist es ganz vorbei.

Der Weg zum Matterhorn war mir unheimlich. Ich wusste, dass ein Haufen Arbeit vor mir lag. Ich studierte alle Flugaufzeichnungen, die meinem Beuteschema entsprachen: Mittags aus dem Oberinntal nach Westen zum Vorder- oder Hinterrhein, weiter ins Wallis, und am späten Nachmittag wieder zurück. Schunk hat das in den frühen 2000ern einmal mit der LS8 geschafft – ein deutscher Rekord, welcher danach von Lengauer (ebenfalls LS8) gebrochen wurde. Seine Bestmarke besteht in der Standardklasse bis heute. Beide haben die Traverse vom Rhein zur Rhône über eine unscharf definierte Route knapp nördlich des Alpenhauptkammes gelöst, allerdings bei ausnahmsweise sehr hoher Basis. Manche Flüge nahmen auch den Umweg noch weiter nördlich in Kauf, um den Südhängen der langen Täler folgen zu können. Arne Neumayr hingegen flog 2011 mit seiner LS8/18m auf einer viel südlicheren Route sogar am Matterhorn vorbei bis in den Süden des Aostatals. Die meisten Flüge, die ich sonst auf dieser Route sah, gerieten allerdings im Tessin irgendwann in eine Sackgasse, die wahrscheinlich der feuchten, heißen, dunstigen Luft aus der italienischen Ebene geschuldet ist.

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Es war noch in diesem Frühling, dass ich eine herrliche Reliefkarte aus den alten Beständen von Thomas Wolf bekam und sie prompt über meinem Bett aufstellte. Das erste, was ich morgens sah, war nun das Aostatal, und ging ich abends schlafen, so mussten meine Augen zuerst noch über den Furkapass. Wie so oft beginnen die großen Abenteuer im Kopf, noch viele Monate bevor es wirklich auf die Reise geht.


Auf den ersten Flügen des Jahres 2016 zog es mich regelmäßig in den Westen, viel weiter und viel häufiger als sonst. Im April überquerte ich den Flüelapass hinüber ins Tal von Klosters, wo Maria und ich uns zwei Jahre vorher schon einmal grandios in die Nesseln gesetzt hatten. Seither war mir der Hinterrhein stets unsympatisch. Wie immer empfing mich ein rasanter Basissprung nach unten, der noch dazu von eisigen Schneeschauern durchzogen war. Durch die Schatten gelangte ich dennoch ohne Probleme bis zum Aroser Rothorn, welches die einzige orographisch sinnvolle Verlängerung aus dem Unterengadin genau nach Westen bildet. Die Wichtigkeit dieser Route wurde mir erst einige Wochen später bewusst, als ich probierte, weiter südlich aus dem verlockenden Oberengadin nach Westen an den Hinterrhein auszubrechen, wo die Wolkenbasis stets viel höher zu bleiben scheint als im Klosterstal. Ich fand die Umwege und zu überfliegenden Hürden dabei gravierend schlimmer als angenommen und halte seither ein flüssiges Durchkommen mit einem Clubklasseflugzeug nicht für machbar. In meiner weiteren Planung verloren also das Oberengadin und die von dort aus nach Westen führenden Julier- und Albulapässe an Bedeutung, so dass tatsächlich der Weg über den Flüelapass und das Aroser Rothorn – trotz des immer wieder erschreckenden Basissprunges um bis zu 1000 Meter nach unten – als beste Alternative übrig blieb.

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Im Mai bekam ich zweimal die Möglichkeit, bei schwacher Südströmung lange Jojo-Flüge entlang der Alpennordseite zu unternehmen. Jeweils bemühte ich mich, den Schenkel nach Westen bis über den sinnvoll erreichbaren Punkt hinaus auszudehnen. Dabei bot sich einmal das Paznauntal an, um ins Churer Becken zum Rhein zu springen, was aber wie so oft in einer Sackgasse endete, von der aus sich die gut entwickelte Route im hohen Gelände weiter südlich einfach nicht erreichen ließ.

Ein andermal war es der Arlbergpass, der mich ins Montafon und von dort aus auf die Nordseite des Vorderrheintals brachte – aufgrund des schlechten Einflusses vom Bodensee her ist das nur bei Südwind sinnvoll. Entlang des Vorderrheins bis zum Oberalppass kam ich schließlich in der sehr feuchten Luft auf keinen grünen Zweig und an eine Passquerung war mangels guter Aufwinde nicht zu denken, doch es war nützlich, auch einmal diese Variante gesehen zu haben.

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Nach diesen Erfahrungen hatte ich irgendwann im Juni das Gefühl, dass mich am Rhein nicht mehr viel überraschen kann. Der nächste Schritt – weiter ins Rhônetal – erforderte genau den richtigen Tag. Es war der 23. Juni, der es mich versuchen ließ. Erstmals programmierte ich vorsichtshalber auch tatsächlich meinen ausgesuchten Wendepunkt am Matterhorn in den Logger.

Es war einer dieser trockenen, warmen Tage, in denen die Nordalpen zäh beginnen und dann am Nachmittag nur für wenige Stunden ganz gut werden. Das ist wohl der Preis, den wir für großflächige, ungestörte Wetterräume bezahlen, ohne dass uns eine hereinziehende Front beengt oder die Gewitter das Spiel zu früh verderben. Es nützt einem der zweitlängste Tag des Jahres nicht viel, wenn man erst um zwölf Uhr starten kann. Immerhin brachte mich die Blauthermik innerhalb von zwei Stunden zum Aroser Rothorn, und diesmal stand es mir offen, weiter nach Westen zu den ersten Cumuluswolken des Tages zu fliegen. Schon nach der ersten Querung, am Piz Beverin, geriet ich in Schwierigkeiten, doch mit Geduld konnte ich dem schwach definierten und noch tief verschneiten Hauptkamm weiter nach Westen folgen. Wenig später überflog ich zum ersten Mal den Oberalppass. Die trockene Luft machte die Sicht gestochen scharf, so dass ich von hier aus schon sehr früh einen Blick über den Furkapass ins Wallis werfen konnte. Die Cumuluswolken hatten wieder aufgehört, aber es war erst viertel nach drei – noch genug Zeit für Experimente. Wie könnte ich widerstehen? Ein langer, gezielter Gleitflug reichte knapp über den Furka.

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Selbst unter normalen Flugbedingungen hätte ich wahrscheinlich Schwierigkeiten gehabt, an dieser Stelle klar zu denken. In der relativ niedrigen Blauthermik – sie reichte heute im Wallis kaum bis 3200 m – überwältigte mich das plötzliche Angesicht der Giganten vollends. Auch wenn ich die meisten von ihnen aus den Karten und Bildern erkannte, war alles neu für mich. Zum ersten Mal sah ich die Eisriesen von Bern: Mittelhorn, Schreckhorn, Finsteraarhorn, Mönch. Unten an der Rhône lagen die beiden Landepisten von Ulrichen und Münster. Weiter vorn die Stadt Brig, und hoch darüber im Hintergrund, am Ende des abzweigenden Stichtales knapp 70 Kilometer entfernt, ragte das Matterhorn als unwirkliche Spitze aus dem flachen Dunst des Nachmittages heraus. Wie automatisch folgte ich der Nordseite des Wallis über eine unscheinbare Querrippe weiter nach Westen. Dahinter wurde alles weiß.

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Ich brauchte ein paar Sekunden. Dies musste der Aletschgletscher sein, der größte Eismassenfluss der Alpen. In meinen knapp 3000 m konnte ich am Jungfraumassiv nach oben sehen, wo der Gletscher mehr als tausend Meter über mir entsprang, und auf der anderen Seite reichte die Zunge nochmals über tausend Meter abwärts in Richtung Tal. Bestimmt eine Minute lang war ich unfähig, den Blick von den Formen, den Felsen und den Eismassen zu nehmen, zwischen die ich so kurzerhand geraten war, und die mich bald einzuschließen drohten. Oberes Wallis, 15:45 Uhr, Blauthermik. 300 Kilometer bis nach Hause. 60 km bis zum Matterhorn. Mir dämmerte, dass es Zeit war, eine Entscheidung zu treffen.

Im Bann der höchsten Berge, zwischen denen ich je geflogen war, konnte ich froh um die Zahlen sein, die mir in diesem Fall die Wahl sehr leicht machten: Flieg zurück, solange du noch kannst. Auf dem Rückweg wird jede Minute kostbar. Morgen ist die Höhenluft etwas labiler – vielleicht ist heute noch nicht der beste Tag. Ich riss mich los, drehte und peilte zurück, flach über den Furka, auf das unbeschreibliche Dickicht aus Eis und Stein. Es galt nun, die Route ein zweites Mal zu lösen.

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Drei Stunden später kreiste ich in 4100 m Höhe über Sölden, unter der letzten Cumuluswolke des Tages, auf ein sehr knappes Plus nach Königsdorf. Es ist selten, dass man mit einem Clubklasseflugzeug einmal hundert Kilometer am Stück gleiten kann, doch so haben wohl auch die stabilen, zähen, heißen Junitage in den Ostalpen am Ende ihre gewissen Vorzüge.


Knapp 24 Stunden später öffnete mir eine alte Dame mit faltiger Stirn, weißen Haaren und hellen Augen die Tür. „Sie sind also vom Himmel gefallen“, sagte sie. Ich musste mich bemühen, den starken Dialekt zu verstehen. „Ja, sozusagen“, lachte ich. Sie musterte mich freundlich, wie ich tropfend nass aus dem Regen herein stapfte, mit unordentlicher Kleidung und verwuschelten Haaren. „Normalerweise übernachten immer die Fallschirmspringer bei mir. Aber Sie sind heute aus Deutschland herüber gesegelt, nicht wahr? Was bringt Sie denn nach Vorarlberg?“

Während sie mir mein Zimmer zeigte und sich nach meinen Frühstücksgewohnheiten erkundigte, erzählte ich ihr meine Geschichte. Mir war egal, dass das meiste für sie wahrscheinlich wie chinesisch klang. Sie war spürbar froh, in ihrer kleinen Pension ein wenig Abwechslung zu erfahren, und ich brauchte sowieso jemanden zum Reden. Ich erzählte ihr, wie Robert und ich in der Früh nach dem Ausklinken fast in der Jachenau abgesoffen wären. Wie wir in vierhundert Metern über der Wiese an einem Grasbuckel einen miesen Nullschieber ausgegraben haben. Wie dann die komische Stemme ohne Flarm angeschossen kam und uns, die LS1 und den Cirrus, fast zur Landung herausgedrängt hätte. Wie wir es dann doch irgendwie ins Hochgebirge geschafft haben. Wie wir uns im Unterengadin getrennt haben, weil es mich schon wieder nach Westen zog. Wie ich wieder tricksen musste, um im Vorderrheintal weiter zu kommen. Ich erzählte, wie der Furkapass viel einfacher zu queren war als gestern, und dass es sogar Cumuluswolken im Wallis gab. Wie der Eingang zum Mattertal genau so zu bewältigen war, wie Yves es beschrieben hatte (man darf keine Angst haben, unter Hang zu kreisen, denn man wird sowieso nicht über Hang fliegen können). Wie ich mit zitternden Händen das Tal zur Nordwand des Matterhorns querte, und wie ich schließlich um 15:45 den Wendepunkt meiner Träume umrundete, mit immer besserem Wetter nach Südwesten. Ich zitterte immer noch. Ich erzählte, dass ich locker nach Südfrankreich bis an die Mittelmeerküste hätte weiter fliegen können, aber dass ich ja morgen Fluglehrerdienst hätte und daher wie geplant den Rückweg antrat.

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„Und dann hat’s Gwitter Sie derwischt“, folgerte die alte Dame, die die ganze Zeit aufgeregt zugehört hatte. Draußen donnerte es immer noch gelegentlich. Vor nunmehr vier Stunden, hoch über dem Hinterrhein, war mir klar geworden, dass ich Königsdorf heute nicht mehr sehen würde: Blitze am Julierpass. Starkregen am Albula. Eine riesige schwarze Wand am Flüela. Gut 70 km Schatten bis zum Arlbergpass. Ich klapperte alle Optionen in Ruhe ab, ließ mich zuerst nach Bad Ragaz zurückfallen, konnte dort im Nichts nochmal tausend Höhenmeter gewinnen, um schließlich einen letzten, spannend knappen Gleitflug zum Flugplatz Hohenems, hinaus zum Bodensee zu machen.

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So endete auch der zweite Versuch des Matterhornfluges nicht nach Plan – und ich hatte nicht einmal eine Zahnbürste dabei.


Die Anzahl der guten Flugtage im nördlichen Alpenraum ist sehr begrenzt. Manchmal vergehen zwei Jahre ohne eine wirklich störungsfreie Wetterlage. Auch im weiteren Sommer 2016 zeigten sich die Berge von ihrer schwierigen Seite: Entweder kaum Bewegung in der heißen Blauthermik, oder Gewitter schon am frühen Nachmittag. Dass man mit der Gewitterneigung im breiten Fluggebiet der Ostalpen meistens irgendwie umgehen kann, hatte ich gelernt, aber nun wusste ich auch, dass dies in den Westalpen anders ist: Dort ist der Wetterraum nicht groß genug, um eine zentral entstandene Überentwicklung sinnvoll zu umfliegen. Seither versuche ich, Flüge in den weiten Westen schon bei geringer Schauer- und Gewitterneigung möglichst zu vermeiden.

So sollte es einen heißen halben Sommer, einen kalten Winter und einen verschneiten Frühling dauern, und dann noch einen ganzen Mai lang. Die ersten guten Alpenwetterlagen des Jahres 2017 vergingen, während ich zusammen mit Wolli Beyer die deutsche Nationalmannschaft der Frauen in Tschechien durch eine ungeheuer spannende Weltmeisterschaft führte. Mir machte das nichts aus: Ich wusste, ich brauche nur noch einen Tag. Ich kenne den Weg, ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Gebt mir nur einen Tag.

Er kam fast genau ein Jahr nach meinen ersten beiden Versuchen. Ein strahlend heller Sonnwendmorgen, an dem die Berge sich so klar gegen den Himmel abzeichneten wie auf einem Gemälde. Es war seit Tagen heiß (ich hatte auch nicht im stickigen Matratzenlager übernachtet, sondern im Discus-Anhänger), aber die Labilität und Feuchtigkeit lagen genau im richtigen Maß, um einen dritten Versuch zu wagen. Klar, heute könnte man bestimmt tausend Kilometer in den Ostalpen versuchen. Aber ich hatte noch eine Rechnung im Westen offen. „Heute hole ich das Matterhorn!“, rief ich, als ich die 710 km Zielrückkehrstrecke zum inzwischen dritten Mal in den Logger programmierte.


Wenn ich heute an meinen Matterhornflug am 22. Juni 2017 zurückdenke, dann wundere ich mich, warum Flüge dieser Art nicht häufiger gemacht werden. Denn mit der richtigen Vorbereitung und genügend Konzentration stecken in den meisten Wetterlagen viel größere Möglichkeiten, als man annimmt, wenn man nachts mit schweren Fingern über die Landkarte tappt.

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Für mich war es an diesem Tag fast nichts besonderes mehr, aus dem Unterengadin nach Westen abzubiegen. Dass es zwischen dem Aroser Rothorn und dem Nufenenpass eigentlich nur einen einzigen richtigen Aufwind gab, dem ich an der Cervreila – beginnend tief unten im Hangflug – über 1300 Höhenmeter entlockte, fand ich seltsam, aber nicht weiter beklagenswert. Immerhin löste es das Problem, das mich bei den vorherigen Flügen immer am meisten irritiert hatte: Wie komme ich fehlerfrei am Vorderrhein vorbei? Als ich in der schwachen, zwischen tiefen Wolkenfetzen versteckten Thermik am Gotthard dann schließlich die Höhe aufbaute, um zum nun insgesamt dritten Mal den Furka nach Westen zu überfliegen, ging mir Julia Engelmanns Mantra durch den Kopf – „Lasst uns Geschichten schreiben, die wir später gern erzählen“. Von diesem Moment an war Abdrehen zu keinem Zeitpunkt eine Option mehr.

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Das Wallis sah nicht gut aus. Es gab kaum Cumuluswolken, einige Abschirmungen aus Stratus, aber ich war nun eben nicht 280 Kilometer weit hierher geflogen, um auf der Zielgeraden wieder einmal die Nerven zu verlieren.
Dieses Mal war ich relativ ruhig, als ich mich zwischen die Eisriesen hinein fallen ließ. Am Blinnenhorn erreichte ich ohne großen Kampf 3800 Meter Höhe, ich querte das Gantertal, das Nanxtal, Saas-Fee, und mit einem langen Gleitflug bei zunehmend schlechter Sicht musste ich bis um die Ecke am Mattertaleingang einbiegen, um endlich schemenhaft das Matterhorn inmitten einer chaotischen Wolkenoptik zu sehen. „Da bin ich wieder“, flüsterte ich, während ich versuchte, auf dem Weg nach Süden nicht zu weit unter die Westflanke des Dom abzusinken.

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In einem der Eiskanäle konnte ich schließlich auf fast 4000 Meter steigen – immer noch tief unter den Graten, aber hoch genug, um (jetzt war es mir doch ein wenig aufregend) zum Wendepunkt an der Nordwestwand des Horns zu fliegen. Das Matterhorn stand, vom Theodulpass her halb in Wolken gehüllt, hoch über dem seltsam weiß-blauen Himmel, der im Hintergrund Italien und Frankreich mit Schatten und Sonne überdeckte. Ich musste kurz an den Pu denken, der dieses Schauspiel damals sogar oben vom Gipfel aus gesehen hatte. Und mir fangen hier daneben schon wegen ein paar Stratuswolken die Hände zu zittern an…

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Wendepunkt: 15:10 Uhr. 35 Minuten vor dem Timeout. Heute bringen wir es heim. Ab diesem Zeitpunkt sind Zielrückkehrflüge strategisch sehr, sehr einfach: Etwas anderes als nach Hause zu kommen kann man sowieso nicht machen.

Wie erwartet half mir die Erfahrung vom Hinflug, das teils abgeschattete Wallis auf dem Rückweg schneller du durchqueren als zuvor. Am Nufenenpass nahm ich nochmal die maximale Höhe mit, da es ja zuvor auf dem 100 Kilometer langen Stück zwischen Oberalp und Aroser Rothorn nur einen sinnvollen Bart gegeben hatte. Immer wieder schaute ich nervös zwischen den unregelmäßigen Cumuli vorbei, ob sich wieder ein Gewitter in den Weg stellte. Argwöhnisch schaute ich querab nach Disentis, wo ein einzelner Regenschauer waberte, der mein Deja-Vú weiter anfachte: Hinter jeder Rippe, die ich am Vorderrein überflog, und nach jeder Wolkenbank, durch die ich mich in der stetig absinkenden Basis in Rìchtung Chur mogelte, erwartete ich den ersten Gewitterturm.

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Ich glaubte es erst, als ich um 17:10 Uhr über den Flüelapass zurück ins Engadin sprang, und einige Zeit später am Piz Nuna vorbei in Richtung Landeck blicken konnte. Die abendliche Luft an den Nordwesthängen des Engadin war turbulent, anstrengend, aber voller Energie. Wie oft war ich auf dieser Route von Samedan her schon nach Hause geflogen? Bis zum Kaunergrat hielt ich in 3000 Metern meine Höhe – das ist weniger anstrengend, als in der quirligen, dünnen Luft das Kurbeln zu versuchen – und holte mir erst am Kaunergrat eine Wolke, um ein Stockwerk höher zu steigen. Aus 4000 Metern lag der Sprung zum Acherkogel frei, und zwanzig Minuten später stieg ich kurz vor dem Kühtai in der schwachen Thermik ein letztes Mal bis an die Basis.

Der Endanflug gab mir 45 Minuten lang Zeit, um zu begreifen, dass ich heute – nach fast zwei Jahren der Entwicklung – den deutschen Klassenrekord der Zielrückkehrstrecke gebrochen habe.

2017-06-22 19.05.30


Das Matterhorn-Projekt war in meiner bisherigen Karriere im Leistungssegelflug mit Abstand der Flug, in den ich am meisten Arbeit gesteckt habe. Für mich hat sich das alles ganz besonders ausgezahlt. Nicht etwa, weil ich jetzt eine Urkunde mehr in der Schublade habe (ich weiß nicht einmal genau, wo die ist). Sondern, weil der weiße Fleck auf meiner Alpen-Landkarte nun mit bunten Erlebnissen, mit großen Emotionen, mit satten Bildern und mit klingenden Namen gefüllt ist. Und durchaus auch mit Ehrfurcht, und ein bisschen auch mit Angst. Es ist nicht so, dass ich jeden Tag nervlich dazu imstande wäre, ohne Motor 350 Kilometer weit weg zu fliegen und nachzusehen, ob die Eisriesen mich heute begrüßen oder auslachen wollen.

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Aber es hat durchaus etwas für sich. Erst kürzlich war ich einmal wieder mit dem Segelflugzeug im Wallis. Nach wie vor hat die Route für mich viele Geheimnisse, mit denen ich nicht immer ganz geschickt umzugehen weiß. Doch das ist völlig in Ordnung so, denn wie sonst sollte ich begründen, dass ich zwei Jahre lang gebraucht habe, um schließlich meine eigene Geschichte vom Matterhorn zu schreiben.

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Wir und unser Wind

Man könnte es durchaus so formulieren: Etwas Beruhigenderes als die anbrechende, spätsommerliche Morgendämmerung inmitten der südlichen Alpen der Provence gibt es gar nicht. Man muss sie erlebt haben, um ihr gerecht zu werden. Da herrscht eine Schwärze am Boden, die aus dem Tal heraus nach oben an den schattenhaften Wänden entlang unmerklich blauer wird, bis sich ganz oben die felsigen Spitzen gegen einen vorsichtig leuchtenden Himmel abzeichnen. Fast könnte es noch das Sternenlicht sein, das die Gipfel so sanft sichstbar macht, herab von den wenigen noch übrigen hellen Punkten, die nun von Minute zu Minute blasser werden, bis auch sie sich im Blau des beginnenden Tages nicht mehr halten können.

Die Luft ist, als hätte sie über Nacht ihre Zusammensetzung geändert, und sie schmeckt nach der durchdringenden Stille des Morgens. Außer ein paar vorbeifahrenden Autos unten im Tal – Töne wie aus einer anderen Welt, die das Bild gar nicht erst zu stören vermögen – ist absolut nichts zu hören. Nein, einen erhebenderen Genuss als die Ruhe der Morgendämmerung am Fuße des Pic de Bure, im Talkessel der Buech, wird man auf dieser Welt kaum finden.

Außer natürlich, wenn man ausgerechnet auf einen Orkan wartet.

Mit gehobenen Brauen verzog ich das Gesicht und rieb mir ausgiebig den Schlaf aus den Augen. Es war 05:45 Uhr, und irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Ich trat ein paar Schritte vor dem Zelt zurück, blickte nach Osten, nach Norden, nach Westen. Dann begann ich, mit der Zahnbürste unruhig auf dem Zeltplatz auf- und abzulaufen. Michi kam mir entgegen, Vincent steckte seinen Kopf aus dem Zelt. Ich versuchte so auszusehen, als hätte ich alles unter Kontrolle. „Ähm. Habt ihr irgendwo den… Wind… gesehen?“, versuchte ich es mit einem schiefen Grinsen. Vincent stolperte heraus. Wenn nicht so viel auf dem Spiel stünde (und wenn es nicht so verdammt früh wäre), ich wusste genau, dann wäre er jetzt in schallendes Gelächter ausgebrochen.

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„Bei Mistral ist es im Prinzip der einzige sichere Ort, in der Luft zu sein. Den Bodenwind hält man einfach nicht aus“, hatte ich ihnen tags zuvor erklärt. „Und wenn du mir auch nur einmal zuhören würdest“, ich sah Vincent durchdringend an, „Dann wüsstest du auch, warum“. Er blickte mit großen, blauen Augen zurück. „Es ist ein KALTER Wind“, sagte ich mit gebieterischer Stimme, und wir mussten beide laut lachen, so wie wir immer lachen, wenn wir gemeinsam etwas über das Segelfliegen lernen. „Der hat eine höhere Dichte als die warme Luft, die normalerweise in den Südalpen steht. Deshalb sinkt der Mistral immer sehr schnell bis in die Täler herunter, und in den Kanälen können bis zu 100 km/h Bodenwind entstehen – ganz im Gegensatz zum warmen Föhnwind, der den Talgrund wegen seiner geringen Dichte eigentlich so gut wie nie erreicht.“

Nach dem nächsten Wetter-Update hatte ich dann erst einmal vorgeschlagen, das gesamte Camp umzubauen, so dass alle Zelte im direkten Windschatten südlich der größten Baumreihe befestigt waren, die wir finden konnten. „Wird es wirklich so stark?“, fragten Sabine und Michi, halb zweifelnd, halb beunruhigt. „Ich habe es schon mehrmals erlebt, dass alles, was am Boden nicht fest gemacht war, einfach weg
geflogen ist“, sagte ich. „Das Windprofil sieht extrem gut aus – zum Fliegen. Hier unten wird es echt unangenehm.“ Vincent nickte mit großen Augen und hämmerte lieber noch ein wenig fester auf seinen Zelthering ein.

Abends sagte ich: „Eigentlich braucht sich hier niemand einen Wecker zu stellen. Der Wind wird irgendwann nachts durchbrechen. Das wird so laut, dass sowieso keiner mehr schlafen kann.“


„Unterschätz mir diesen Sturm nicht“, sage ich nicht


Dann begannen wir, den Flug nochmal komplett durch zu gehen. Es war eigentlich ganz einfach. Ich hatte in den letzten Jahren fast jedes Mal, wenn ich im Frühjahr oder Herbst zum Training in Südfrankreich war, die Ehre gehabt. Der Mistral, dieser zauberhafte Nordwind, hatte mir alle seine Gesichter der Reihe nach gezeigt, und mich oft mitgenommen durch die kochende, wellende, energiegeladene Luft, mit der sich seine Gewalten zwischen Rhônetal und Po-Ebene im Hochgebirge entladen. Ich war schon an manchem Tag wie auf einer explosiven Kanonenkugel am Gipfel des Ventoux entlanggepfeffert, hatte mich gegen den Sturm nach vorne gepresst, von Talsprung zu Talsprung, war im Lee des Pic de Bure herumgeworfen worden wie ein machtloses Blatt Papier, um eine halbe Stunde später reglos, schwerelos, in 6000 Metern Höhe der König aller Welten zu sein. Ich war schon mehrmals, unversehens, verzweifelt vor dem Pas de la Cavale ins Valgaudemar hinabgestürzt, um mich tief unten an irgendeiner Flanke wieder zurück ins Freie hinaus zu retten, und hatte schon einmal, 2013, dem von Sturmwolken gepeitschten Gipfel des Gran Paradiso ins Auge geblickt. Das Fliegen im französischen und italienischen Mistral ist für mich – da einfach durch die Entfernung und Seltenheit noch weniger greifbar – das einzige, was mich ähnlich bewegt wie die heimatlichen Föhnstürme in Österreich und der Schweiz. Und was das mit mir macht, sollte inzwischen hinreichend bekannt sein.

Es war Zeit für den nächsten Versuch, dem ganzen endlich die Krone aufzusetzen. „Sechs Schenkel zwischen Merlú und Gran Paradiso“, hatte ich mit Vincent besprochen. Sunrise 07:03, Sunset 20:05. „Tausend Kilometer durch dreizehn Stunden – sonderlich schnell muss man eigentlich gar nicht sein“, sagte er. Ich hob eine Augenbraue. „Unterschätz mir diesen Sturm nicht. Fallen und Tücken überall. Die fressen die Zeit schneller auf, als du denkst!“, sagte ich nicht. Sein Blick – unvoreingenommen, optimistisch und wild entschlossen – belehrte mich eines Besseren. „Stimmt schon.“, hörte ich mich brummen. Es war seit mindestens einem Jahr nicht mehr ganz klar, wer von uns beiden der Meister war, und wer der Schüler.

06:05 Uhr. Das Wort „bedröppelt“ wurde für meinen Gemütszustand erfunden, als wir den aufgerüsteten Duo Discus zu viert rückwärts auf die Startbahn schieben. Etwas anderes, als trotz völliger Windstille die Flugzeuge aufzubauen, ist mir einfach nicht eingefallen. Da ich nicht weiß, was ich zu den anderen, die sich wahrscheinlich ähnlich fühlten, sagen soll, drehe ich mich einfach um und wandere über die Bahn, wo sich auf der gegenüberliegenden Seite des Flugplatzes Serres gerade die Hallentore öffnen.


Klaus Ohlmann lacht, so wie Kinder eben lachen, wenn sie ein gutes Spiel entdeckt haben


Im gleißend hell erleuchteten Quo Vadis-Hangar zeichnet sich gegenüber der Morgenstimmung – es ist immer noch fast dunkel – die majestätische Silhouette der Stemme ab. Als ich näher komme, sehe ich die emsige Gestalt von Klaus Ohlmann kopfüber im Cockpit versenkt, so dass nur noch seine Beine nach oben aus dem Rumpf hervor ragen. Sobald ich ihn rufe, springt er auf und läuft ausgelassen auf mich zu. Er ist augenscheinlich sehr viel besser gelaunt als ich, strahlt über das ganze Gesicht und weist auf die Stemme – das Flaggschiff des Mountain Wave Project, mit dem er erst vor zwei Jahren als erster Segelflieger den Mount Everest überflogen hat.

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Klaus Ohlmann sprüht vor Aufregung und Tatendrang. Verschwörerisch beginnt er, mir seine Ideen für den Tag genau zu erklären, völlig offen, mit leuchtenden Augen, und ohne dass ich ihn darum bitten hätte müssen. Er lacht schelmisch. Kunstpause. Dann: „Ich hab 1500 Kilometer Zielrück ausgeschrieben!“ Meine Augen werden groß, und ich beginne zu lachen, vor Aufregung, vor Anspannung, vor Freude. Klaus lacht mit, laut und herzlich, so wie Kinder eben lachen, wenn sie ein gutes Spiel für sich entdeckt haben. Als es wieder still wird, wage ich es, meine Frage zu stellen. Ich schlucke. „Aber… Klaus… es ist völlig windstill!“

„Ja“, sagt er, so als ob es darüber nun wirklich nichts weiter zu besprechen gäbe. „Damit kann man umgehen. Sidonie und ich starten in 15 Minuten, sobald es hell genug ist. Du schaffst das!“ „Du auch“, rufe ich und drehe mich um.

Damit kann man umgehen, wenn man einen Motor hat, der dich zu einem beliebigen Abflugpunkt in einer fast beliebigen Höhe bringen kann. Klaus macht es richtig, schmunzle ich, bevor ich wieder damit beginne, über den Ernst der Lage nachzudenken. Und wie machen wir das? Wie kommen wir früh genug hinauf ins Windsystem, ohne einen Motor zu haben, und ohne mehrere hundert Euro für einen langen Schlepp auszugeben? Langsam trotte ich zu den anderen zurück, wo fragende Blicke mich erwarten.

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Sie allesamt besitzen das Feingefühl, keine zynischen Bemerkungen zu machen, als wir gemeinsam, halb fröstelnd, halb ratlos, und allem Anschein nach vollkommen sinnlos auf der Startbahn sitzen. Während all dieser Zeit hat sich der nordöstliche Horizont in ein gleißendes Hell verwandelt, das hoch oben bereits unwirklich scharfe Schatten auf ein sagenhaftes Meer von Lenticulariswolken schmeißt – traumhaft anzusehen, und doch nicht zu erreichen aus unserem dunklen Verlies, tief zwischen den Schatten, unten in der unerbittlichen, windstillen Talinversion der Buech.


Am Anfang ist es nichts weiter als Willenskraft


Unsere Fesseln zu sprengen, soll Vincent und mich noch geschlagene vier Stunden kosten. Die Startaufstellung verlassen und ins Camp zurück laufen: Nur mit viel Überwindung. Frühstücken: Der Fruchtriegel, der eigentlich als Belohnung für den Moment nach dem geglückten Einstieg ins Wellensystem vorgesehen war, bleibt mir fast im Hals stecken. Der Blick auf die Uhr: Immer noch kein Hauch von Wind, und im Hintergrund schauen die Lenticulariswolken fast schon höhnisch aus dem hohen Gelände auf uns herab.

Wir starten um kurz nach neun, über zwei Stunden nach Klaus‘ mutigem Abflug. Es ist zwar immer noch nicht besonders windig, aber erste Böen zeigen an, dass die Grundschicht der Atmosphäre langsam warm genug wird, um Bewegung zuzulassen.

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Am Anfang ist es nichts weiter als Willenskraft, die uns an der Nordwand des Arambre knapp unter der Höhe des spitzen, dreieckigen Gipfels leidlich in der Luft hält. Der erste Vorstoß in den Talkessel nach Aspres ist zum Scheitern verurteilt, denn die Luft fühlt sich so müde an wie schon am Boden. Aber als wir uns zwanzig Minuten später widerwillig zurück an den Ausklinkpunkt drängen lassen, und dabei gezwungenermaßen sehr niedrig über den Flugplatz Serres fliegen, erkennen wir am Boden das erste positive Zeichen des Tages. Der Windsack steht auf einmal horizontal. Es sind nur Minuten, in denen sich jetzt alles verändert: Von hinten treffen uns immer mehr harte und angenehme Böen, die Ground Speed zählt unaufhaltsam hoch. Sobald der Wind am Boden einmal durchgeschlagen hat, durchmischt sich die untere Schicht sofort mit den höheren Lagen. Bis die Inversion nicht mehr sicht- und spürbar ist, dauert es nur wenige Augenblicke, und wir können deutlich spüren, dass der schlafende Drache gerade aufgewacht ist. Der wackelige Tanz durch die plötzlich heftig werdenden Turbulenzen beginnt, doch Vincent und mir macht das nichts mehr aus. Einmal, als wir über Aspres zweihundert Meter in einem halben Kreis verlieren, wird mir kurz ein wenig anders, und Vincent sagt nicht viel. Aber wir drängen uns kontinuierlich nach Norden, bis wir die suggestiv hin- und herfahrenden Wolken über La Faurie endlich direkt vor uns haben. Kommt doch her, sagen sie. Traut euch. Wagt es nur…

Ich kann nicht sagen, dass ich es besonders genieße, diese Schlacht zu schlagen, in denen die Natur es einen so richtig eiskalt spüren lässt: Wie klein du doch bist, und wie niedlich du hier antrittst. Heute mal zwanzig Meter Spannweite! Stellst du dich diesmal wieder so lustig an? BÖE! Huch – hab ich dich etwa erschreckt?

Ich mag es nicht besonders, aber ich weiß es zu schätzen, dass ich gegen einen so starken Gegner antreten darf. Und mit der Zeit wirken die Hiebe und Schläge, die im Rotor auf uns einprasseln, auch nicht mehr ganz so demütigend und einschüchternd, wie in den ersten Jahren. Ich komme schon zurecht. Und eine weitere halbe Stunde später sind wir heroben.


Die richtige Böe zu erwischen, kann Ewigkeiten dauern. Aber irgendwann gelingt es


Es ist der Moment, in dem alles leicht wird, die Bewegungen des Flugzeugs auf einmal ruhig und klar zu spüren sind und das Licht um uns herum plötzlich heller wird als jemals zuvor an diesem Tag. Es ist dieser eine schicksalhafte Kreis, mit dem man sich hoffnungsvoll in eine – gefühlt die tausendste – der heftigen aufsteigenden Böen hinein wirft, und in dem das Variometer diesmal nicht wie bei den neunhundertneunundneunzig Versuchen zuvor nach wenigen Sekunden zusammen mit dem Rest des Flugzeugs wieder ins Bodenlose hinunter sackt. Diesmal trägt und stützt uns die Luft, in dieser einen Spirale fallen wir nicht wieder raus, sondern können den Duo eng hinauf und um die Kurve schießen lassen, während links und rechts von uns die ersten Flusen kondensieren, weit vor der großen Hebungswolke an einer flüchtigen Stelle, die man zuvor gar nicht so genau hätte erraten können. Endlich – und völlig zufällig – haben wir den Schlüsselmoment getroffen. Doch an welchem Ort wir uns gerade bewegen, ist schwer zu beschreiben, da sich im Sturm das gesamte System aus auf- und abbauenden, wirbelnden und pulsierenden Wolkenstücken stets mit fast 100 km/h in Richtung Lee verschiebt. Alles ändert sich räumlich und zeitlich, mit jedem Meter und jeder Sekunde ist nichts mehr so wie zuvor, wenn Berge und Wolken umeinander treiben und fließen. Die richtige Böe zu erwischen – diese eine entscheidende Kurve zu fliegen und nicht noch einmal, zum tausendsten Mal herunter zu fallen – kann Ewigkeiten dauern. Aber irgendwann gelingt sie, und auf einmal ist der Weg vorgezeichnet, den man einschlagen muss, um an der Wolkenvorderkante seitlich vorbeizusteigen. Mit jedem Meter wird der Aufwind breiter, konstanter und stärker.

Und wir sind heroben.

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Seit dem Start haben wir nicht besonders viel miteinander gesprochen. Zuerst, nach dem Ausklinken, aus Mangel an Optionen, die einer Diskussion würdig wären, sowie aus schlechter Laune heraus. Dann später aus schier physischen Gründen: Der Rotortanz mit seinen Böen, die sicherlich regelmäßig an die 3 g gehen, lässt wenig Spielraum für Gespräche, und an irgendeinem Punkt hat Vincent wohl beschlossen, dass er mir einfach vertrauen muss, wenn die Luft mit voller Gewalt nach uns schnappt. Nun aber steigen wir endlich an der ersten Hebungswolke vorbei ins ruhige obere Wellensystem, und sprechen immer noch kaum etwas – diesmal hat es einen anderen Grund. Denn Worte für das, was wir nun sehen, fehlen.

Der waghalsige Sprung zum Pic de Bure gelingt. Es ist das erste Mal heute, dass überhaupt irgendetwas funktioniert. Die bekannteste Leewelle der Alpen steht, als hätte sie nie etwas anderes getan. Ich lasse den Duo hinauf schießen und stelle mich genau in die Strömung. In 3000 Metern Höhe schalten wir den Sauerstoff ein. In 5000 Metern verabreden wir, uns alle paar Minuten gegenseitig zu überprüfen, denn ab hier wäre ein Fehler in den Atemsystemen lebensgefährlich.

In FL 195 – beim heutigen Luftdruck etwas über 6000 Meter – drücke ich den Steuerknüppel nach vorne, baue 200 km/h Fahrt auf und nehme Kurs nach Nordosten in die Champsaur. Vincent ist noch nie in seinem Leben so hoch gewesen und hat Schwierigkeiten, zu realisieren, was nun für uns butterweiche Realität ist.

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Und wir sind heroben. Links von uns liegt tief unten das geschlossene Wolkenmeer der Staubewölkung in den Tälern Richtung Grenoble, und Rechts von uns ist die Provence nach Süden offen – ein strahlend klarer Vormittag, und die Sicht muss mehr als zweihundert Kilometer betragen. Das gesamte Fluggebiet, das in den letzten Tagen mit der langsam herbstlich werdenden Thermik unser Spielfeld war, liegt auf einem Blick unter uns, so klein und überschaubar sehen die hundert Kilometer ausgedehnten Gebirgszüge und Täler entlang der Durance aus, so absurd hoch sind wir heute.

Die Wellenlinie zur Querung der Ecrins ist vorgezeichnet, so wie ich es noch nie gesehen habe. Vincent übernimt das Steuer und sucht den Weg der maximalen Energie hoch über den aufwallenden Hebungswolken, so wie ich es ihm erst im Februar in der Schweiz gezeigt habe. Zielsicher bringt er das Flugzeug in immer noch gut 5000 Metern Höhe über den Cavale in die Brianconnais, und von dort aus sehen wir, welches Glück wir haben: Auch wenn die Wolken nach Nordosten scheinbar immer und immer dichter werden, gibt es einen Weg mit ausreichend Lücken. Wir fliegen weiter ins Susatal.


Der Flug nimmt genau so leicht seinen Lauf, wie er schwer begonnen hat


Der Weg entlang ist absolut erstaunlich. Wohin wir auch kommen, zeichnen gewaltige Wolkenformen in mehreren Schichten den Weg der Aufwinde vor und weisen den genauen Weg für denjenigen, der sie lesen kann. Für uns jedenfalls nimmt der Flug genau so leicht seinen Lauf, wie er schwer begonnen hat. So strukturiert und zusammenhängend wie heute kenne ich das Wellensystem von Briancon zum Gran Paradiso bisher nicht. In manchen Momenten scheint es zwar, als wären die Wolken um uns herum geschlossen und der Boden restlos unter ihnen verborgen, doch die linienförmigen Löcher und Lücken, die sich in der mehrschichtigen Bewölkung auf unserem Weg auftun, bleiben stets hinter uns geöffnet wie die Schollen hinter einem Eisbrecher im Polarmeer. Dynamische Meteorologie, so anschaulich und klar, wie wir es noch nie gesehen haben.

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Manchmal, wenn es einen besonders hohen Wolkenturm zu umfliegen oder ein geschlossenes Wolkenfeld bis zur nächsten Insel mit Bodensicht zu durchqueren gilt, halten wir an und nehmen uns die Zeit, ein wenig zu steigen. Dann sprechen wir uns ständig gegenseitig verschwörerisch leise, beruhigende Worte zu. Die Stimmung könnte magischer kaum sein.

„Jetzt nicht zu eilig!“ „Geht schon, vorsichtig, wir sind genau richtig!“ „Da vorne dann deutlich weiter links.“ „Dein Sauerstoff?“ „Läuft noch.“ „Läuft.“

Zwischen 4500 und 6000 Metern zu bleiben, bedeutet, sogar über einer fast völlig geschlossenen Wolkenlandschaft stets alle Exit-Strategien und Fluchtmöglichkeiten zu haben. Je eine Option nach unten, nach vorne, zur Seite. Wenn wir aufpassen, wird ein verfrühtes Umkehren nicht nötig sein. Immer wieder fragen wir uns gegenseitig, ob es safe ist, was wir tun. Wenn beide einverstanden sind, wagen wir den nächsten Sprung.

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Alle höheren Gesellen – Monte Viso, Grande Casse, Gran Paradiso – sind hoffnungslos in weiße Schwaden eingehüllt. Die Orientierung fällt ohne markante Posten am Boden nicht leicht, noch dazu während der Nordweststurm – es sind immer zwischen 70 und 110 km/h aus 320 Grad – uns so dermaßen quer zum Kurs über den Boden schiebt, während die Wolken um uns sich ständig trügerisch verwandeln und verformen. Es ist wie durch eine Geisterbahn zu fliegen, in der die Natur sich allerlei für uns einfallen lässt. Doch wir nehmen uns Zeit, staunen, finden unseren Weg auf Kurs, ohne den Gewalten die Chance zu geben, uns einzuschließen. Es ist nicht einmal besonders kalt in 6000 Metern Höhe. Was für ein riesiges Schauspiel.


Wir wenden um 12:30 – an einem Ort, den es nicht gibt


Irgendwann sollte Susa, dann der erste Wendepunkt an der Luftraumgrenze zur Absenkung auf FL145 unter uns sein. Wir sehen schon Boden, also ein bisschen, aber es könnte dort unten auch Grönland oder das versunkene Atlantis sein. Das einzige was wir wirklich gut sehen können, sind die Wolken, zwischen denen wir umherspringen. Sie formen eigene Berge und Täler, haben Strukturen und Gestalt, so dass es schwer fällt, sie von einer tatsächlichen, realen Landschaft zu unterscheiden, mit Schattierungen und Formen, die sich im Zeitraffer abtragen und aufschieben, anwachsen und erodieren. Es ist zu verlockend, die Erscheinungen einfach als neue Bodenreferenz zu akzeptieren, doch das würde binnen Sekunden mit dem Wind hinüber in den absteigenden Wellenast führen. Wir bleiben vorsichtig auf dem scheinbar schräg verlaufenden, vorgelagerten Kurs, der uns genau dort hält, wo tief unter uns die Kondensation beginnt, und so kann uns nichts passieren. Wir wenden um 12:30 – an einem Ort, den es nicht gibt.

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Auf dem Rückweg haben wir sogar eine GPS-Spur vom Hinflug, der wir folgen können. Dies und die Rückenwindkomponente lassen uns einen Schnitt von bisweilen über 200 km/h halten. Vom Pic de Bure aus tauchen wir gewaltsam mit voller Fahrt unter den Luftraumdeckel vor dem Rosanstal. Grausam ist die Flughöhe für uns hier auf FL115 beschränkt, gerade einmal 3500 Meter. Doch die Berge hier in den westlichsten Ausläufern der Südalpen sind so niedrig, dass wir die schlimmsten Probleme meiden können. Die zweite Wende in der Leewelle des Merlú erreichen wir um 13:47. Vom Zeitplan zu sprechen, ist eigentlich nicht der Rede wert: Wir sind zwar schnell, aber im Prinzip sind wir immer noch vier Stunden zu spät vom Pic de Bure aus losgeflogen.

Dennoch rasen wir die Linie – von nun an wieder mit Gegenwind – wieder hinauf von Rosans in Richtung Serres. Der Gegenwind ist vor allem auf dem Abschnitt von Serres hinauf zum Pic de Bure ein echtes Problem. Ich bohre einfach weiter, mit hoher Fahrt gegen den Sturm. Den Bure aggressiv anzufliegen, damit habe ich schon lange kein Problem mehr. Mit dem gesamten Elan der letzten Stunden, in denen wir kaum eine Minute irgendwo liegen lassen mussten, werfe ich mich erstmals wieder zurück unter die Wolken, um vorwärts in den Rotor zu kommen. In 2200 Metern erreichen wir die ersten Wolkenfetzen. Ich presse weiter voran. Die Turbulenzen kommen. 2100 Meter. 2000. Es wirft uns wie ein Blatt umher, und immer noch will ich nicht abdrehen. 1900 Meter. Urplötzlich sehe ich nach links und rechts und begreife: Ich bin wahrscheinlich längst durch geflogen. Ich bin völlig am falschen Ort. Mit vollen Ruderausschlägen bringe ich den Duo zurück vor den ersten Wolkenfetzen. Wir könnten dort jetzt schon 500 Meter höher sein. Vincent sagt nichts. Die Turbulenzen werden absurd. Ich schwitze wie verrückt in meiner Höhenausrüstung, mein Atem geht schwer. Endlich werden es zwei Meter pro Sekunde, irgendwann wird es ruhiger, schließlich auch kühler.

„Es tut mir leid“, sage ich, und meine es ernst. „Das war echt nicht nötig. Ich hab zu spät kapiert, dass…“ „Hör auf!“, ruft Vincent. „Was hinter uns liegt, ist jetzt sowas von egal. Darüber reden wir heute Abend. Ich würde jetzt ein Stück direkt nach Osten verlagern und dann gegen den Wind. Dann sind wir schon wieder oben. Auf geht’s!“

Wenige Minuten später sind wir wieder im oberen Teil der Troposphäre und beschleunigen erneut. Immer noch macht uns die Gegenwindkomponente zu schaffen, aber sobald wir über die Champsaur hinaus wieder ins höhere Gelände sehen, tut sich vor uns erneut die Linie auf. „Wenn wir das nicht heute Früh schon mal gemacht hätten“, rufe ich aufgeregt, „dann wüsste ich jetzt gar nicht so genau, wo sie steht.“ In der Tat kommt mir erst jetzt, wie unübersichtlich der Einstieg in dieses Milieu ist, in dem allein die Wolken und der Sturm die Regeln bestimmen. Ich bin mir nicht sicher, aber vielleicht ist es im Vergleich zum Vormittag sogar noch feuchter geworden. Oder ich bin müder geworden. Jedenfalls gelingt es uns dennoch irgendwie, wieder einzusteigen, und nach kurzer Zeit finden wir eine Linie, der wir vertrauen können. Die Bedingungen auf Kurs nach Italien sind ähnlich wie auf dem ersten Leg.


Wenn wir so weiter machen, dann werden wir heute genau neunhundert Kilometer fliegen


Irgendwann kommt der Punkt, an dem ich dann doch wieder mit dem Rechnen anfange. Dann drücke ich auf dem Oudie umher und verschiebe Punkte, notiere mir Zahlen und beginne einige Kopfrechnungen. Ich weiß jetzt, da wir einmal an beiden äußeren Wendepunkten gewesen sind, ziemlich genau wie schnell wir heute sind und weiterhin sein könnten. Ich weiß, wie viel Zeit noch bis zur Dunkelheit bleibt. Und ich berechne: Wenn wir so weiter machen wie gerade, dann werden wir heute genau neunhundert Kilometer fliegen. Ich weiß nicht, ob mir gefällt, was ich ausgerechnet habe. Neunhundert… Es sei denn… was wäre wenn…? Vincent hinter mir ist am Knüppel und jagt den Duo mit 180 km/h an den stets kondensierenden Flusen vorbei wieder vorwärts über das Susatal. Ich habe eine Idee. Ich lasse Vincent in Ruhe fliegen und überlege selbst, wie und in welchem Moment ich meinen Plan am besten ansprechen soll.

„Klar“, sagt Vincent. „Das ist eine sehr geile Idee. Ich glaube, das machen wir. Meinst du, wir sollten das machen?“

Was ich überlegt habe, ist folgendes: Wenn wir auf dem nächsten Schenkel wieder wie geplant unter den Luftraum tauchen müssen, um unterhalb von FL115 die Strecke bis zum Merlú ans Rhonetal auszudehnen, dann verlieren wir die Zeit, die uns am Ende fehlen wird, um tausend Kilometer zu fliegen. Wenn wir vor der Luftraumgrenze, also schon etwa bei Serres, wenden, dann wäre die Gesamtstrecke zu kurz und wir bräuchten wir einen siebten Schenkel, den uns die Regeln aber nicht erlauben. Was wäre aber, wenn wir zwar die kurze Wende nehmen, dann aber am Ende nicht in Serres, sondern im 80 Kilometer weiter südlich gelegenen Vinon sur Verdon zu landen?

Die Handys bekommen in unserer großen Flughöhe immer nur flüchtig Netz. Daher verfassen wir beide die gleiche SMS hinunter nach Serres:

„Uns gehen die Legs aus. Wäre es ok wenn wir bei Sunset mit 1000km in Vinon landen? Ist auch in Ordnung wenn ihr nein sagt!“

„Das machen sie schon“, sagt Vincent. „Denke auch. Vielleicht sollten wir ihnen sagen, dass sie erst los fahren sollen, wenn wir uns endgültig entschieden haben?“ Also eine weitere SMS.

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Und so marschieren wir weiter nach Nordosten, wieder zum Wendepunkt etwa bei Kilometer 190. Die Feuchte hat tatsächlich zugenommen, doch noch immer weisen uns die selben zerbrochenen Lücken vertraulich und geheimnisvoll den Weg, den wir nun schon kennen. „Wenn das mal nicht dicht macht bis heute Abend! Einmal müssen wir noch hier rauf…“


Irgendwie bin ich froh, jetzt gerade nicht allein zu sein


Wir haben jetzt noch knapp vier Stunden bis zum Sonnenuntergang, und es verbleiben noch fünfhundert Kilometer zu fliegen. Trotz Plan: Das sieht immer noch nicht so gut aus, wie es sein könnte. Doch die Route ist eingefahren, und los geht es auf dem vierten Schenkel wieder hinunter über den Mongenevre und die riesigen Ecrins, den Pic de Bure. Wie geplant nehmen wir dort die maximale Höhe mit, um nicht wie bei der vorherigen Runde unter den Luftraum zu tauchen. Die Welle des Bure spuckt uns in 6000 Metern Höhe nach Südwesten aus, und wenige Minuten später setzen wir die vierte und damit vorletzte Wende des Tages an einem absurden Ort: Fast fünf Kilometer senkrecht über dem Flugplatz Serres. Hier über dem wolkenfreien, niedrigen und offenen Talkessel kommt mir die extreme Flughöhe noch viel unwirklicher vor. Ich schaue einige Augenblicke lang hinunter und denke darüber nach, dass wir jetzt unsichtbar sind. Unser Flugzeug ist so klein, dass uns in dieser Höhe, in der wir nunmehr seit etwa sieben Stunden fast ständig fliegen, vom Boden aus niemand sehen kann. Aber wir sind trotzdem da. Und wir sind unglaublich schnell. Eine Gänsehaut läuft mir über den Rücken, und irgendwie bin ich froh, jetzt gerade nicht allein zu sein.

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Noch ein letztes Mal nach Nordosten in die Domäne der gigantischen Wolken. Das wird jetzt spannend. Zeit, die Superkräfte auszupacken.

Als wir uns zum fünften und letzten Mal an diesem Tag auf den Pic de Bure stürzen, piepst am tiefsten Punkt kurz ein Handy. „Wir sollen nach Vinon fliegen, sagen sie. Sie machen den Anhänger fertig und warten aufs Zeichen zum Losfahren.“ „Hm“, sage ich. „Hm.“

Die Bodencrew jetzt los zu schicken, würde bedeuten, dass wir in Vinon landen müssen. Das würde ohne die Chance auf 1000 Kilometer keinen Sinn machen. „Sie sollen noch warten“, rufe ich nach hinten. „Wenn wir sehen können, wie es inzwischen bei Briancon aussieht, dann entscheiden wir.“


Wir dürfen nicht mehr anhalten, wenn wir vor Einbruch der Dunkelheit in Vinon sein wollen


Um 18 Uhr queren wir ein letztes Mal den Col de Cavale. Was uns dahinter erwartet, wird den Flug entscheiden. Ich lasse den Duo Discus auf die Wand aus Wolken zu schießen, die den Pass kilometerhoch verhüllt, und starre begierig nach vorne. Den Steuerknüppel gebe ich nicht mehr aus der Hand – nicht, weil ich es Vincent nicht zutrauen würde, sondern weil dieses letzte Leg nach Nordosten, an dem alles hängt, nun einmal einfach mir gehört. Vincent weiß das und nimmt seine Rolle an, indem er beginnt, immer wieder ruhig und bedacht mit mir zu sprechen. Er selbst hat das dieses Jahr im Mai vom vorderen Sitz aus erlebt, und er weiß genau, was gerade in mir vorgeht. Mein Atem geht schwer, während wir der weißen, unwirklichen Wand immer näher kommen, schließlich an ihr entlang um die Ecke schießen und bald wieder in den Talkessel von St. Crepin sehen können.

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„Briancon ist frei“, sage ich. „Aber das sieht schon kriminell aus.“ Serres oder Vinon? Lange können wir mit der Entscheidung nicht mehr warten.

Die Welle über dem Montgenevre steht immer noch, allerdings finde ich kaum mehr als 1-2 m/s Steigen. Wäre es nicht die alte Stelle von vorhin, weiß ich nicht, ob ich sie noch gefunden hätte. Das langsam fahler werdende Licht und die immer enger werdenden Wolkenlücken neben und unter uns haben es in sich. Voraus kann ich gar nichts mehr erkennen. „Wir nehmen uns jetzt die Zeit“, sage ich, mehr zu mir selber. Die Uhr läuft, und sie läuft eindeutig gegen uns, während wir nochmal langsam und in weiten Schleifen zurück auf FL195 steigen. Ab jetzt dürfen wir nicht mehr anhalten, wenn wir vor Einbruch der Dunkelheit in Vinon sein wollen. Oder fliegen wir doch einfach nach Serres?

Aus der neuen Höhe sieht der Weg voraus nicht mehr ganz so düster aus wie noch tausend Meter tiefer. Ich traue mich nicht, schneller als 130 zu fliegen, während ich der Energielinie folge so gut ich nur kann. Ich fliege, als hätte ich rohe Eier an Bord, und muss mich ständig zu Entspannungsübungen zwingen.

Auf einmal knackt es im Funk: Christoph Schwaiger meldet sich ab, er wird bald in Serres landen. „Soll ich denen am Boden noch was von euch ausrichten?“, fragt er. Es ist Zeit für eine Entscheidung. Ich sehe nach vorne in die dunkle Schlucht, die der Mongenevre zwischen den Wolkenwänden bildet. „Ok Christoph“, sage ich im Funk so langsam und deutlich wie möglich. „Sie sollen nach Vinon los fahren. Kannst du das bestätigen?“ Christoph wiederholt brav – 150 Kilometer Distanz können jede Information sehr schnell in Flüsterpost verwandeln. Dann verlässt er die Frequenz. Sie fahren los. Vinon also. Und wir müssen vorher noch 30 Kilometer weiter nach Nordosten.

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Es sind noch zwei, drei Wolkenfladen wie auf Zehenspitzen zu überqueren. Wir schleichen gegen den Sturm nach Norden, ins hohe und von weißem Nichts verborgene Gelände hinein. Es ist halb sieben Uhr Abends, und das Licht wird langsam spektakulär, abendlich und etwas bedrohlich. Plötzlich springt ungewohnt das FLARM an – kein Alarm, nur die Info, dass jemand in unserer Nähe ist. Vor uns, tiefer als wir, auf Gegenkurs. Wir haben außer einigen Flugzeugen um Serres herum heute nur wenige Fremde getroffen. Neugierig recke ich den Hals und scanne angestrengt – dann sehe ich, wie einige hundert Meter unter uns eine Stemme von Nordosten her entgegen schleicht. „Das ist Klaus!“, rufe ich aufgeregt. „Meinst du, er hat es geschafft?“, fragt Vincent. Im Funk erreiche ich ihn nicht. Von der Uhrzeit her würde es ungefähr passen, aber wo auch immer er da im Norden herkommen mag: ich sehe nichts als Wolken und noch mehr Wolken, die immer dichter werden. „Das heißt jedenfalls, wir können definitiv noch weiter fliegen! Klaus war tiefer als wir, und konnte von da aus ganz normal hierher springen.“ (Später erfahren wir, dass Klaus immerhin bis zum Monte Rosa gekommen ist, aber beim Frühstart in der Luft nahezu genauso viel Zeit verloren hat wie wir am Boden).


Es ist noch gut eine Stunde bis Sonnenuntergang, und unser Zielflugplatz ist etwa 200 Kilometer entfernt


Ich drücke den Knüppel nach vorne und spüre, wie das Gefühl langsam von den Zehenspitzen hinauf steigt. Wie im Rausch schießen wir über den Nordrand des Susatals und stellen uns dann wieder genau gegen den Wind. Jetzt nur noch warten und hoffen. Die Varionadel steht wie angenagelt auf Minus vier. Ich atme tief ein und fliege noch ein wenig schneller. Schließlich sehe ich, wie die Sinkrate unmerklich weniger wird. Erst ganz langsam, dann immer deutlicher. Es dauert noch fast eine Minute, und dann –

„Vincent, jetzt haben wir’s. Ich glaube, wir haben es. Da schau her!!“

Ich gehe im neuen Steigen wieder auf Kurs Nordost und beginne zu rechnen. Auch wenn es jetzt von Minute zu Minute ungewöhnlicher aussieht (es ist noch gut eine Stunde bis Sonnenuntergang, und unser Zielflugplatz ist etwa 200 Kilometer entfernt), weiß ich, dass die Zahlen recht haben werden. Wie automatisch folge ich dem schwachen Aufwindband noch ein paar Kilometer nach Norden, solange bis die berechnete Distanz genügt und die Wolken uns von links unten her einzuhüllen drohen. Es ist kaum auszuhalten, gegen die Zeit, gegen den Wind und mit ständig abnehmender Bodensicht spät abends noch weiter weg zu fliegen, aber rational betrachtet ist alles immer noch in Ordnung. Trotzdem bin ich erleichtert, als ich endlich das Steuer herumreißen und den Duo auf den letzten Schenkel bringen kann: Südkurs. Nach Vinon mit Rückenwind. Jetzt irgendwo bei Oulx noch einmal auf 5500 Meter steigen, und dann einfach nur ankommen.

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Es ist der längste Endanflug meines Lebens. Der Nordwind hilft uns, bei über 250 km/h Geschwindigkeit über Grund den Gleitpfad nach Vinon einzuhalten. Ab Briancon steigen die Reserven. Bei St. Crepin müssen wir noch einen größeren Umweg um die allgegenwärtigen mächtigen Quellwolken machen, doch nach kurzer Zeit spuckt uns das Labyrinth aus Felsen und Wasserdampf endgültig aus. Über dem Lac de Serre-Poncon kommen wir ins Freie, und können mit einem Schlag hundert Kilometer weit nach Süden sehen. Mit jedem Meter, den wir sinken, wird es wärmer, und die Sonne tief über dem Horizont wirft alles in ein warmes, freundliches Licht, das uns sanft in den unteren Schichten der Atmosphäre willkommen heißt. 960 Kilometer.


Mit dem Beginn der zwölften Flugstunde bricht die Dunkelheit über das Land hinein


Bald liegt Sisteron querab, dann Saint Auban, sogar Puimoisson können wir sehen. Die gesamte Provence lässt sich in einen Blick fassen. Als die Optimierung in der Nav-Box 998 Kilometer anzeigt, strecke ich meine linke Hand umständlich am Panel entlang nach hinten. Vincent nimmt und drückt. Wir beide wissen um die Bedeutung dieses Momentes, und müssen wieder nicht viel sprechen. Fünf Jahre lang haben wir nun miteinander gearbeitet. Jetzt überfliegen wir gemeinsam die Tausend-Kilometer-Marke.

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Über Vinon haben wir noch reichlich Energie und lassen den Duo nach Süden überschießen, einfach um den Moment noch eine Weile aufrecht zu erhalten und dann nie wieder zu vergessen. Als wir den Blick vom Mittelmeer am Horizont lösen und endgültig zum Flugplatz eindrehen, verschwindet die Sonne gerade unterm Horizont. Noch immer sind wir sehr hoch und ziehen weite Kreise über dem braunen, sommerlich trockenen Durancetal, während unten in den kleinen, kargen Dörfern die ersten Lichter angehen. Mit dem Beginn der zwölften Flugstunde bricht die Dunkelheit über das Land hinein, und es wird Zeit, loszulassen. Ich setze die Klappen.

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Am Ende laufen alle Fäden in der Maison Blanche wieder zusammen, dem weißen Haus am Flugplatz Vinon. Die Nachricht von unserer Kursänderung ist uns bereits vorausgeeilt. Clara, Karsten und Daniel haben Bratkartoffeln gemacht, Sabine und Michi sind mit dem Anhänger aus Serres blitzschnell gekommen. Es ist eine herzliche Runde, die genau so erst gestern am Ufer des Sainte Croix in der Sonne gesessen hatte. Wer hätte gedacht, dass wir so schnell wieder zusammen kommen?

„Ganz schön windig“, bemerkt Vincent mampfend, als draußen um die zugigen Ecken des historischen Segelfliegerhauses noch immer der heftige Mistral schlägt. Lange sehen wir uns an, und ich weiß genau, was er denkt. So fühlt es sich also von hier unten an. Genau unser Wetter zum Fliegen.

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Hundert mal elf

Auch wenn es auf den ersten Blick nicht nett aussieht: Die Antwort ist „nein“.

Lasst mich ein Stück ausholen. In den Tagen nach meinem fast dreizehnstündigen Alleinflug am 16. September 2015 – einem Tag, der einen erstklassigen Sturm aus Südwest und viele weitere Zutaten zu einem richtig guten Psychothriller zusammen warf – bekam ich sehr viele Anrufe und Nachrichten. Und ich muss zugeben, dass ich das große Echo auf diesen Flug sehr gemocht habe. Ich bin dankbar, dass ich mit den Flügen und Ideen, in die ich seit Jahren viel Arbeit investiere, das Interesse so vieler Menschen wecken kann. Dass ich nicht alleine bin. Ich bin dankbar für die Motivation, den langen Weg immer weiter zu gehen.

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Doch die Antwort ist „nein“. Viele haben mich gefragt – es ging von „Warum hast du mich nicht mitgenommen?“ über „Das nächste Mal komme ich aber mit“ bis „Kannst du mir das auch beibringen?“.

Aber das kann ich nicht. Zu gerne würde ich „ja“ sagen, mit jedem einzelnen würde ich tagelang im Föhnsturm durch das Gebirge jagen und alles erklären was ich nur weiß, und wir würden gemeinsam die vielen Rätsel lösen, die der Südwind uns dort zwischen den Felsen aufgibt. Doch das ist alles nicht so einfach.

Es gibt nicht genug Tage. Nutzbarer Föhn ist eben einfach nur zwei, dreimal im Jahr. Und ihr könnt sicher sein: Ich fliege im Doppelsitzer, so viel ich nur kann. So viel, dass es für mich längst nicht mehr selbstverständlich ist, am richtigen Tag überhaupt einmal alleine loslegen zu „dürfen“, ohne Schüler, ohne Trainee, ohne Begleiter. Es ist mir auch gar nicht mehr so wichtig. Doch es gibt Tage, die gehören einfach mir. Der 16. September war ein solcher Tag.

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Aber natürlich kann ich dich mitnehmen.

Es ist Dienstag, der 15. September, und der Tag neigt sich seinem Ende zu. Düstere Schichtwolken liegen über dem Alpenrand und hüllen die Gipfel der Randberge in ein gleichmäßiges, bleiches Nichts, während die Abenddämmerung rasch über das Land fällt. Sonst ist alles still. Wenn wir es nicht besser wüssten, wenn wir nicht seit zwei Tagen wie gebannt in jeder freien Minute die Wetterkarten verschlungen hätten – wenn wir es nicht besser wüssten, dann hätten wir uns hier heute nicht blicken lassen. Aber sei unbesorgt: Morgen früh, noch bevor wir aufwachen (und wir werden früh, sehr früh aufwachen), wird der Tiefdruckwirbel  im Westen schon das Rhônetal erfasst haben, und er wird einen Sturm vor sich her schieben, wie wir ihn seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen haben. Morgen früh um 06.50, bei Sonnenaufgang, werden wir in den Alpen den Tanz eröffnen.

2015-09-15 21.47.33

Du fragst, was ich vor habe. Die Frage hab ich mir selbst auch schon stundenlang gestellt. Um den Fakten einmal ins Gesicht zu sehen: für den Europarekord bräuchte ich 1116 km, für den DMSt-Gesamtsieg 1158 km. Jeweils über nur drei Wendepunkte. Das sind so absurde Distanzen, dass ich schon den ganzen Tag mit einem Schauer auf dem Rücken herum laufe. Aber mit den Jahren verliert das Unmögliche seine Unnahbarkeit. Spätestens seit dem 04.11. sind es nicht mehr nur die schieren Zahlen, die mich überwältigen, sondern eher die Möglichkeiten. Wenn deine Träume dir keine Angst machen, sind sie nicht groß genug. Und deshalb schreibe ich 1160 Kilometer aus, ohne Rücksicht auf die Mauern in meinem Kopf, deren Überreste ich noch nicht überwunden habe.

Lektion Eins – Geometrie für Fortgeschrittene. Also 1160 Kilometer. Mein gewöhnlicher Ansatz, schon mehrere Monate alt, sah so aus:

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Jedoch hat der Tag einen Haken: Die Westkomponente im Wind ist so unangenehm groß angesagt, dass gerade der Hangflug tief im unstrukturierten Relief des Gesäuse sehr riskant werden könnte. Der Weg zur Rax würde den ganzen Flug schon nach der Hälfte der Strecke unwiederbringlich gefährden. Das geringste Übel läge immerhin noch in den Eisenerzer Alpen, das Wildfeld oberhalb von Trieben, auch diese Wende von der Erreichbarkeit her schon fraglich, aber durchaus denkbar. Trotzdem muss damit eine der beiden anderen Wenden noch weiter in den Westen:

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Doch auch diese Aufgabe ist so nicht haltbar, da an Wochentagen der Luftraum in der Schweiz MIL-ON, also auf FL 130 (ca. 3900 m) gedeckelt ist – besonders ohne Transponder. Die Linie westlich von Bad Ragaz traue ich mir in der niedrigen Höhe einfach nicht zu, sie könnte zu einer unerträglichen Turbulenzfalle werden – auch wenn Rainer Cronjäger und andere Schweizer Experten bereits das Gegenteil bewiesen und mir auch wertvolle Informationen dazu gegeben haben. Das möchte ich noch einmal an einem Tag ausprobieren, an dem weniger auf dem Spiel steht. Mit diesen beiden  Grenzen im Westen und Osten – Barrieren in meinem Kopf, die erst nach drei, vier weiteren Flugexperimenten fallen werden – ist der erste oder der letzte Schenkel zu kurz für die Rekordstrecke.

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Die Möglichkeit, die Aufgabe zu spiegeln und den längeren, östlichen Teil anstelle des kürzeren, westlichen Abschnitts zweimal zu nutzen, fällt aus wissenschaftlichen und sicherheitstechnischen Gründen aus: Ein Abflug nach Osten würde bedeuten, schon früh morgens zum ersten Mal längere Zeit an den Hängen Tirols und der Steiermark zu verbringen, die zu dieser Tages- und Jahreszeit in der massiv gesammelten nächtlichen Kaltluft der breiten Trogtälern von Inn, Salzach und Enns versinken. Dort wird sich erst Hangaufwind bilden, wenn die Temperatur im Talgrund um mehrere Grad gestiegen ist, während die Hänge, die für den Westabflug nötig sind, allesamt oberhalb 2500 m liegen und damit über die in den engeren Tälern Vorarlbergs ohnehin weniger präsente Kaltluft schon bei Sonnenaufgang erhaben sind. Doch auch wenn die Orographie keine solchen Argumente liefern würde, wäre ein Ostabflug morgens gegen die aufgehende Sonne, gepaart mit einem abendlichen Anflug auf Westkurs gegen die untergehende Sonne, aufgrund der schlechten Sicht im Gegenlicht ein Sicherheitsrisiko, das gerade unter den extremen Bedingungen des Föhnsturmes für mich nicht zur Debatte steht, wenn es sich nur irgendwie vermeiden lässt.

Ein drittes Argument gegen eine Spiegelung der Aufgabe, um den Schwerpunkt der Strecke nach Osten zu verlagern, ist die starke Westkomponente im Wind: Diese könnte den östlichen Teil der Route, die primär auf Hangaufwind aus Süd ausgelegt ist, mit unerwarteten Schwierigkeiten versehen, während sie der der Bildung von hochreichenden Wellen, wie sie vor allem im westlichen Teil des Fluggebietes auftreten, nur wenig entgegen stehen wird. Somit bietet es sich nach allen sinnvollen Gesichtspunkten eher an, den West-Teil zweimal zu befliegen, und dafür die kürzeren Schenkel in Kauf zu nehmen. Dies bedeutet allerdings: Der Zielpunkt darf nicht zu Hause in Königsdorf liegen. Der letzte Schenkel streckt sich bis zum Flugplatz St. Johann in Tirol. Von dort aus könnte ich am nächsten Tag im abklingenden Wind zurück fliegen oder notfalls auf der Straße mit dem Anhänger heim kommen – allerdings mit einem europäischen Rekord in der Tasche…

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Ich gebe mir zehn Prozent, dass es funktioniert. Du fragst, was mit den anderen neunzig ist. Ich habe eine Stimme im Ohr, die mir vor dem Abschied zuflüsterte: „Denk dran. Zur Not – einfach fliegen.“

Lektion Zwei – Fliegen mit allen Händen und Füßen. Ich versuche gerade, mit der linken Hand über den Flügel hinweg blind Fotos vom Sonnenaufgang zu schießen. Er baut sich in unserer leichten Linkskurve am östlichen Horizont in einer Pracht auf, die ich wie bei jedem Frühstart mangels freier Sekunden hier im Cockpit gar nicht richtig betrachten kann, als die erste Böe aus Südwesten einschlägt. Ich lasse die Kamera einfach fallen, gehe mit der rechten Hand und dem rechten Bein voll dagegen und kann gerade noch verhindern, dass das Schleppflugzeug aus dem Sichtfeld heraus purzelt. Die linke Hand schnellt in die Nähe des gelben Ausklinkknopfes. Mit dem Ellenbogen versuche ich, die Kamera zu ertasten und neben meinem Arm sicher zu verstauen. Noch immer komme ich mit den Rudern alle paar Sekunden an ihre Anschläge. Sobald Christian, der vorne in der Remo wahrscheinlich auch vollen Körpereinsatz zeigt, den Kurs auf Südwest, zum Abflugpunkt Mittenwald, stabilisiert hat, haben wir die Sonne fast im Rücken. Der Horizont ist noch fast stockfinster. Die Sonnenbrille brauche ich erstmal nicht mehr – ab auf den Schoß, griffbereit. Über dem Kochelsee erwischt uns der nächste Rotor, rauf, runter, links, rechts. Das Schleppseil hängt bedrohlich durch, ich kreuze die Ruder und versuche die Schwingungen abzubauen. Was die Ordnung in meiner Kapsel angeht: Objekte, die ich schon gestern Abend an verschiedenen Stellen im Cockpit fest gemacht und verstaut habe, fliegen quer durch die Kabine. Ich habe keine Hand frei, um irgendwas aufzufangen.

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Kurz vor Mittenwald zieht Christian im ersten richtigen Aufwind des Tages das Gas aus der Schleppmaschine. Wir steigen immer noch mit fast 5 m/s. Ich brülle „DANKE!!“ im Funk und werfe augenblicklich das Seil ab. In der ersten Schleife in 2600 m Höhe sticht die tiefe Sonne zum ersten Mal seit dem Start wieder voll in die Kanzel. Ich taste nach meiner Sonnenbrille. Sie ist nicht mehr da, weggeflogen. Also meide ich Ostkurven und werfe mich gegen den brüllenden Südwestwind – hier müssen es sicher 80 km/h sein – an den Wettersteingrat. Die drei Kilometer kosten mich fast 400 Meter Höhe. Im Luv angekommen muss ich sehr nah an die Felsen gehen, um ins Aufwindband zu gelangen. Dann steige ich mit gut 1 m/s am Hang entlang hinauf, bis ich über den Rücken nach Norden sehen kann, wo das scharfe Licht, das zwischen den den Wolkenstreifen von Minute zu Minute stärker durchbricht, das bayerische Oberland in farbige Streifen schneidet.

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Lektion Drei – Vertraue niemandem. Eine halbe Stunde später schiebt sich das tiefe Becken des Inntals hinter dem Wanneck hervor. Die Querung des Talkessels von Imst wird umso schwerer, je weiter westlich die Windrichtung ist. Heute stehe ich auf der Querung über Nassereith im Wind und komme nach Westen kaum vorwärts. Es ist mehr West als Süd. Nur damit eines klar ist: Das ist sehr, sehr schlecht, denn dafür gibt es (noch) kein sicheres Konzept.

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Als ich mich der Luvseite der Heiterwand nähere – dem einzigen Hang auf Kurs, der trotzdem noch sinnvoll im Wind steht, spüre ich, wie die Strömung mich nicht an das Relief heran lassen möchte. Ich erhöhe die Fahrt und werfe mich mit hoher Energie direkt an die Wand – eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Ich weiß, dass ich in spätestens zehn Sekunden eine „go / no go“ – Entscheidung erzwingen muss. Einen Ruck spüre ich noch, dann beginnen die Instrumente einfach rückwärts zu laufen. Momente lang fällt der Discus ins Bodenlose – noch bevor ich sinnvoll reagieren und ins Tal abdrehen kann, bin ich 250 Meter herunter gefallen. An einem Hang, auf dem mindestens 60 km/h Wind in einem beträchtlichen Winkel stehen.

Es gibt nur eine Möglichkeit, solche Fallen zu parieren: gegen den Wind über das Tal ausweichen. Normalerweise hat man dann aber schon so viele Höhe im Abwind verspielt, dass auch dies nicht viel nutzt. Über der Talmitte sehe ich einzelne, hohe Quellungen in die zerbrochene Stratusdecke eingelagert. Dort oben könnte man die Welle hinein interpretieren, die wenige Kilometer hinter mir mir voller Gewalt von oben auf die Luvhänge schlägt. Ich quere in einer weiten Schleife das gesamte Tal und finde über dem Fluss gerade mal eine rote Null. Hier unten, tief zwischen dem Alpenhauptkamm und den Lechtaler Alpen eingeklemmt, wirkt das Tal wie ein Windkanal, der die Windrichtung so stark verdreht und die Windstärke gleichermaßen erhöht, dass es mich erstaunt, obwohl ich bereits mit dem Schlimmsten gerechnet habe. Jetzt komme ich nicht einmal mehr vor bis Mils. Ich weiß, dass ich noch ungefähr eine Minute habe, um irgendetwas zu unternehmen, bevor ich in die Windstille des Tales einsinke. Endet die Reise schon nach 50 Kilometern? Ich kann auf Anhieb zehn Namen nennen, die im Föhn schon auf der Wiese in Imst landen mussten, und das durchaus schon bei südlicheren Windrichtungen. Doch hat das heutige Extrem nicht wiederum einen Vorteil, den es normalerweise nicht geht?

Der Tschirgant, schießt es mir durch den Kopf. Die Westflanke der Pyramide ist das einzige, was sich dem Wind jetzt noch entgegen stellen könnte. Das bringt mich zwar nicht weiter auf meinem Kurs, aber wenigstens verschafft es mir Zeit zum Nachdenken. In 1900 m habe ich die Nase des Massivs nach einer gefühlten Ewigkeit umrundet und luge vorsichtig um die Ecke. Wenn ich mich jetzt zum zweiten Mal irre, ist der Tag schon verloren, bevor er richtig begonnen hat. Doch dann erfassen mich die Böen von unten und ich steige in engen Schleifen an der Westflanke der Pyramide mit 2-3 m/s hinauf. Von hier oben kann ich sehen, was sich selbst auf der Landkarte nicht eindeutig erschließt: Der Tschirgantgipfel ist die einzige Möglichkeit, im Strömungskanal des Oberinntal bei Westwind sinnvoll Höhe zu gewinnen…

Lektion Vier – Jede Minute zählt, jede Sekunde schmerzt. Eine halbe Stunde später fädele ich den Discus mit tief gerunzelter Stirn, diesmal noch 300 Meter tiefer als beim letzten Mal, wieder in den Fuß vom Tschirgant ein. Hier unten ist es Maßarbeit, dem flach ausufernden Hangfuß zu folgen und den Anschluss an die Strömung nicht zu verlieren. Schleife für Schleife wird der Aufwind wieder stärker, aber ich kann mich darüber gerade nicht freuen. Das kann doch nicht wahr sein, flüstere ich. Auch die zweite Attacke nach Westen, vom höchsten Punkt des Hangaufwindes aus 2400 m nach Westen, gegen den Wind an Imst vorbei, endete nach qualvollen 15 Minuten Pressens gegen den Wind und 15 Kilometern Strecke, erst in der Talmitte (kein Rotor, sondern gelegentliche Ausschläge von -2 auf -1) und dann an der Westnase des Laggersberges (kein Hangaufwind, sondern 30 Meter Höhenverlust nach 5 Minuten achtern). Ich predige immer, auf gar keinen Fall an den Laggers zu fliegen, da er trotz seiner vielversprechenden Höhe, Form und Ausrichtung viel zu sehr von den folgenden, noch höheren Rippen hinauf zur Parseierspitze abgeschattet wird. Doch auf die Vorderseite dieser Rippen kommt man eben auch nicht, ohne vorher irgendwo Höhe gewonnen zu haben. Was soll ich nur tun, frage ich mich, frage ich laut ins Nichts hinein gegen den übermächtigen Wind. Was soll ich denn machen?

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Die Stelle ist wie verhext – nichts passt zusammen, nirgendwo organisieren sich die Auf- und Abwinde in einem nutzbaren Muster. Ich probiere es noch ein paar Minuten über verschiedenen Stellen in der Talmitte, aber in 1800 drehe ich um: Wenn ich mich jetzt nicht sofort zurückfallen lasse und wieder Rettung am Tschirgant suche, sinke ich aus dem Windfeld. Die Wende fällt schwer, sie tut physisch weh. Insgesamt habe ich mich nun seit einer ganzen Stunde nicht sinnvoll vom Fleck bewegt. Den Gedanken, dass die Aussichten auf den europäischen Rekord nach diesem Zeitverlust nun gegen Null gehen, versuche ich erfolglos zu verdrängen. Wenn die scheinbar unlösbare Situation nicht so unglaublich interessant wäre – wird das Oberinntal zur Endlosschleife oder gibt es trotz allem einen Weg ins Montafon? – könnte ich fast von schlechter Laune sprechen. Wieder oben am Pyramidengipfel des Tschirgant in 2400 m angekommen, drücke ich das Flugzeug diesmal nach Südwesten. Ich kann förmlich sehen, wie es mich nach links (!) weg schiebt. Irgendwo zwischen Venet und Ötztaleingang könnte im Talkessel ein Rotor stehen. Eine Stunde verloren. Und das so früh am Morgen. Es ist doch zum verrückt werden.

Lektion Fünf – Es gibt immer einen Weg. Um fünf Minuten vor Neun macht Segelfliegen wieder Spaß. Über dem Inn-Knick jenseits des Venet touchiere ich in abenteuerlicher Höhe die erste Welle, die mich zuerst zerbrochen, doch mit der Höhe immer gleichmäßiger am Gipfel vorbei trägt. In 3300 m verlagere ich zum Parseier vor eine Gruppe von Hebungswolken, die aus anderen Winkeln gar nicht sichtbar gewesen wären. Endlich mal zur richtigen Zeit am richtigen Ort, denke ich mir. Immer luvseits am vordersten Rand der kondensierenden Wolkenstücke bleiben, auch wenn die schönsten Wolken teils schon mehrere Kilometer ins Lee abgewandert sind.

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Mit jedem Kilometer nach Westen wird die Wolkenoptik besser. Die Böen lassen 4000 m Höhe langsam nach und ich kann mit 200 km/h über den Arlbergpass ins Montafon und weiter über die Schesaplana in den Kessel von Bad Ragaz springen. Auch wenn die Ground Speed immer noch fast 60 km/h weniger beträgt, geht alles ganz schnell.

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Tief unten an den Felsen des Massivs sehe ich Flugzeuge im Luv, spüre aber selbst kaum Hebung. Deswegen schleiche ich nach drei vorsichtigen Kreisen einfach weiter über das Tal. Laut Rechenmodell und Erfahrung der Schweizer Kollegen kommt man aus diesem Kessel schon immer heraus, entweder im Bereich des Flugplatzes in einer Welle, die einem den Weg weiter nach Westen frei schlägt – oder notfalls unten am Hang des Gonzen, der im Kanal des Rheintals genau angeblasen wird. Aber so weit soll es gar nicht kommen. Um 10.15 Uhr Lokalzeit umrunde ich den ersten Wendepunkt „Ragaz Nord“ – geflogene Strecke 145 km, bisheriger Schnitt 48 km/h. Der Zeitrückstand bleibt bei einer Stunde, aber der Tanz zwischen den Wolken des großen Schweizer Wellensystems lässt die Enttäuschung langsam wieder der Motivation weichen: Bis Sonnenuntergang sind noch gut neun Stunden zu fliegen….

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Lektion Sechs – Rückenwind ist fast so gut, wie Gegenwind schlecht ist. Über diesen Fakt staune ich seit vielen Jahren jedes Mal aus Neue. Normalerweise verschätzt man sich vor allem beim Mistral-Fliegen in Südfrankreich so enorm, wenn man sich gegen den Nordwind viele Stunden lang über Susa oder in die Maurienne gekämpft hat, um dann nach einem Bruchteil der Zeit wieder ganz automatisch zurück „gespült“ zu werden. Bei Föhn fliegt man zwar meistens eher quer zum Wind, so dass sich die Geschwindigkeiten auf West- und Ostkurs nicht maßgeblich unterscheiden – aber heute, bei dieser unerbittlichen Westkomponente, schaffe ich pro Minute mehr als 5 Kilometer.

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Der Flug mit bis zu 350 km/h nach Osten ist schwieriger, als er scheint: Wolkenbänder stellen sich in den Weg, verdecken den Blick auf das Gelände, und man muss sehr weit voraus denken, um nicht plötzlich auf der falschen Seite einer Wellenwolke, dazu noch im falschen Paralleltal, im Handumdrehen den Faden zu verlieren. Trotzdem streckt sich der Gleitwinkel des Discus ganz automatisch auf fast 1:100, so dass Höheneinteilung für den nächsten Abschnitt kein Problem ist. Rechtzeitig vor der Luftraumgrenze presse ich mich wieder unter die 11000 Fuß. Hoch über der Heiterwand, deren Falle beim tiefen Anflug früh morgens beinahe das Ende des Fluges bedeutet hätte, mache ich eine seltsame Beobachtung: Ein winziges Flugzeug zieht tief unten im Luv seine Schleifen. Das Flarm-Radar bestätigt mir: Jetzt trägt der Hang. Irgendetwas scheint sich in der letzten Stunde zum Guten verändert zu haben – ein weiterer Beweis dafür, wie nahe im Föhn Misserfolg und Gewinn zeitlich und räumlich aneinander liegen. Doch es macht Hoffnung für den weiteren Weg.

Lektion Sieben – Von Wind und Wildwasser. Auch in den unteren Schichten im Relief hat der Wind seine westliche Richtung, so dass ich weiterhin mit Gleitzahl 1:100 bei 170 km/h unterwegs bin. Das ist die gute Nachricht, und die schlechte zugleich. Innsbruck fliegt vorbei, die Nordkette wird vom Windstrahl, den der Brenner durch den Alpenhauptkamm schießen lässt, wie gewohnt zuverlässig angeblasen. Doch der Hangaufwind reicht kaum bis 2700 Meter, weil der Luvwinkel so miserabel ist. Immer wieder muss ich mir Zeit zum Steigen nehmen, um bei jeder noch so kleinen Querung hoch genug und ohne Risiko anzukommen. Eigentlich komme ich auf diese Weise ganz gut vorwärts, aber ich habe keine Vorstellung davon, wie unter diesen Bedingungen der Rückweg aussehen wird. Doch bis dahin sind es noch einige Stunden.

Am Rofan beschließe ich, die Lücke zum Wilden Kaiser mithilfe der „Wildwassertaktik“ zu überbrücken: Gerade auf diesem Abschnitt des Inntals mischen sich sturzbachartige Luftmassen aus dem Zillertal und vom Brenner herab in den Kanal, der die gesamte Luft unter wildem Schäumen und Brodeln an Kufstein vorbei ins Flachland befördert. Wer gegen diese Strömung anfliegen muss, ist den Naturgewalten ausgeliefert wie auf hoher See – nach Osten hingegen lässt man sich einfach  nur treiben. Die einzige Herausforderung besteht darin, auf dem Weg keinen absteigenden Wellenast zu durchschneiden, die Geschwindigkeit (und damit den Höhenverlust) möglichst gering zu halten, alle Böen sauber auszugleichen und zu warten, bis der Windstrahl einen am Westende des Wilden Kaisers im Luv ausspuckt. Auf diese Weise verliere ich über die 35 Kilometer breite Querung hinweg nur 700 Meter – in der bittersüßen Gewissheit, gerade eine Entscheidung getroffen zu haben, die sich unter Umständen nie mehr rückgängig machen lässt. Doch darüber sprechen wir später.

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Lektion Acht – Zwei Welten. „Der Osten“ und „Der Westen“ – das ist naturgemäß eine sehr vage Beschreibung räumlicher Zweiteilung. Es hängt immer davon ab, im Bezug auf welchen Ort diese Richtungen gewählt werden. In den Alpen allerdings mache ich regelmäßig die Erfahrung, dass insbesondere bei stürmischen Föhnlagen tatsächlich eine Teilung des Fluggebietes in zwei Wetterräume herrscht, die irgendwo auf der Breite des Landstriches Tirol aufeinander treffen – meistens offenbart diese Grenze genau auf der schwierigen Querung zwischen dem Rofan und dem Kaiser ihre taktische Bedeutung.

Westlich dieser Linie ist der Einfluss der anrückenden Frontlinie deutlich spürbar. Alle Dinge erreichen extreme Ausmaße: der Wind besitzt mitunter Orkanstärke, der daraus folgende kräftige Föhneffekt liefert sich in atemberaubenden Wolkenschauspielen einen erbitterten Kampf mit der vom einbrechenden Tiefdruck angelieferten Feuchtigkeit in allen Höhen. Sturmgepeitschte Wolken demonstrieren eindrucksvoll den chaotischen Verlauf der Luftströmungen, hochreichende Wellen schlagen von oben auf turbulente, instabile Luv- und Leewirbel, und Situationen können binnen Minuten von einem Extrem ins andere überschwingen. Der Westen bietet ein Fest des Fliegens im Sturm, in dem ein Übermaß an Möglichkeiten und Problemen sich die Waage halten.

Der Flug im Osten des Föhnbereichs – durch die Kaiserquerung oft schlagartig eingeleitet – lässt in vielen Fällen eine sanfte Ruhe einkehren. Die Front ist noch ausreichend weit entfernt, um dem Föhneffekt Platz für einen oft strahlend blauen Himmel zu überlassen, der die Berge an einem Herbsttag wie dem heutigen in klare, warme und freundliche Farben hüllt. Der Wind nimmt gerne eine Stufe ab, zwar immer noch in Sturmstärke, aber nicht mehr so gewaltsam wie noch vor einer Stunde im Westen. Wellen – falls noch vorhanden – greifen nicht mehr so gewaltsam ins Geschehen ein, sondern legen sich gerne samtweich über das Gelände, und sogar Thermik kann sich unter günstigen Bedingungen noch helfend einmischen. Da noch dazu die normale Operationshöhe mit dem Gelände absinkt, von 3000-4500 Metern auf nurmehr 2000-3000 Meter, breitet sich im Cockpit eine angenehme Wärme aus. Ich drehe eng an den Felsen der Südwand am Wilden Kaiser die ersten Schleife in 1-2 m/s. Ich spüre, wie die neue Umgebung mir gerade recht bekommt. Der Flug geht jetzt in seine sechste Stunde, es ist höchste Zeit für eine kleine Pause.

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Lektion Neun – Kopfentscheidungen und Bauchentscheidungen. Die Hangflugroute der Ostalpen ist ein Tanz zwischen vielen einzelnen Ensembles aus Kalk und Granit. In welcher Reihenfolge, mit welcher Priorität man sie anfliegt, welche Abkürzungen man wählt oder sein lässt, wie viel Wert man auf Höheneinteilung legt und an welchen Orten man wie lange zum Steigen anhält, bleibt der eigenen Kreativität überlassen. Mein Konzept mündet fast jedes Mal in leicht unterschiedlichen Routen: Wolkenoptik, Windrichtung und mein Grundgefühl über die Vertrauenswürdigkeit der Route definieren den Weg, auf dem ich grundsätzlich versuche, an jedem Berg genau so hoch zu steigen, um am nächsten Berg im oberen Drittel anzukommen. Loferer Steinberge, Steinernes Meer, Hochkönig, Tennengebirge, Dachstein. An keinem der Berge schaffe ich es, die Felsen weit genug zu übersteigen, um meinem Konzept des oberen Drittels komplett treu zu bleiben – doch noch immer weht der Wind aus 210 bis 230 Grad. Die meisten Querungen sind zwischen 10 und 20 Kilometer lang, aber die Rückenwindkomponente lässt mich Höhenmeter sparen, die ich an jeder einzelnen Station gut gebrauchen kann. Ich versuche, nicht an den Rückweg zu denken, solange es einen Weg voraus gibt.

Beim Einstieg in das Dachsteinmassiv fühle ich, wie die Erholung der letzten Stunde im ruhigen, sonnigen Relief wieder lebhaftere Geister in mir weckt. In diesem regelmäßigen, angenehmen Stil – halb Hangaufwind, halb Rückenwind – könnte ich ewig weiter machen. Zum ersten Mal seit dem Wendepunkt in der Schweiz erlaube ich mir, die Schnittgeschwindigkeit nachzurechnen: In den letzten zweieinhalb Stunden bin ich dreihundert Kilometer weit nach Osten geflogen – ein Schnitt von etwa 120 km/h. Da die Aufwindstärke an den Hängen selten mehr als 1,5 m/s betrug und die Rückenwindkomponente immer 30-40 km/h stark war, glaube ich nicht, dass ich diese Geschwindigkeit auf dem nächsten Westschenkel auch nur annähernd halten kann – dies müsste ich aber, um bis Sonnenuntergang die Aufgabe zu erfüllen. Ich beschließe, am Dachstein alle Augen und Ohren offen zu halten, und dann spätestens am Grimming eine Entscheidung über den weiten Osten zu treffen.

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In 2300 m – höher habe ich es am Westausläufer des Massivs nicht geschafft – steige ich in die massive Südwand des Dachsteingebirges ein. Zum ersten Mal seit dem westlichen Ast des geteilten Brennerstrahls habe ich Ostwind. Sonst fühlt sich die Luft über die ganze Wand hinweg tot an. Respektvoll umfliege ich die Seilbahn, deren Drähte enorme Höhen über Grund erreichen. Schnell sind 400 Meter verspielt. Ich erinnere mich daran, was mir hier vor einigen Wochen mit Maria passiert ist – der gesamte Dachsteinblock wurde vom seichten Föhnwind einfach umströmt, im Westen Ostwind, im Osten Westwind. Als ich tief unter der Scheichenspitze vorbei um die Ecke biege, bemerke ich, wie die Ground Speed im anhaltenden Sinken langsam ansteigt. Tatsächlich, wieder das gleiche Spiel. Doch zum Abdrehen ist es auch zu spät. In knapp 1900 m lasse ich mich an den östlichen Pfeiler der Dachsteingruppe treiben – endlich hält sich das Vario für ein paar Sekunden über Null. Über einige Achten kann ich sogar knapp 2 m/s halten, bevor sich das Steigen wieder verflüchtigt. Doch von hier aus zurück zu fliegen, wieder durch das Sinken und die Umströmung, macht auch wenig Sinn. Außerdem liegt mein Wendepunkt von hier aus immer noch 85 Kilometer weiter östlich. Also taste ich mich langsam weiter.

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Als ich mit 110 km/h vorsichtig die Kammspitze überfliege, kommt mir oberhalb ein Schleppzug entgegen. Ich hebe eine Augenbraue. Es muss einen Grund geben, warum man in Niederöblarn nicht einfach am Grimming ausklinkt, sondern sich fast 15 Kilometer weit weg ziehen lässt. Doch es ist zu spät, ich bin schon wieder zu tief für einen Rückflug gegen den Wind an den Pfeiler. Ich wage es kaum, den Steuerknüppel zu bewegen. Der Grimming empfängt mich auf der Westseite mit einem knappen Meter Steigen, und unter dem Hauptgipfel geht es laminar mit 4 m/s nach unten. Ich reiße alles herum und gehe wieder an die enge Aufwindstelle. Steigen und nachdenken. Von hier aus sind es noch 70 km bis zur östlichen Wende, insgesamt noch knapp 700 Kilometer für die Aufgabe. Es ist kurz nach 13 Uhr. Sogar mit Rückenwind habe ich den Zeitrückstand, den ich schon früh morgens aufgebaut hatte, nicht einmal annähernd abgebaut. Und seit vier Gebirgsgruppen  (Hochkönig, Tennengebirge, Dachstein, Grimming) wurde der nutzbare Hangaufwindteil von Berg zu Berg immer kleiner und schwächer. Noch bin ich in einer Position, in der es vielleicht ein Zurück gibt…

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In dem Moment, in dem ich über den Hauptgrat des Grimming hinweg in 2300 m nach Norden sehen kann, ebbt der Aufwind ab. In meinem Kopf rattert und rechnet es. Ich ziehe noch zwei Schleifen ohne Steigen und schaue in alle Richtungen. Am Ende siegt das Argument, dass ich einfach kein gutes Gefühl für einen Weiterflug habe. Wie automatisch richte ich nach Westen auf und beginne mit dem Rückflug. Der Versuch, einen kontinentalen Langstreckenrekord aufzustellen, ist gescheitert.

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Lektion Zehn – Zur Not, einfach fliegen. Ohne das vom Hinflug sehr genaue Vorwissen, an welchen Ausläufern und welchen Pfeilern des Dachsteingebirges die Luft trägt, die den Berg heute so unangenehm umfließt, wäre ich eventuell nicht mehr an dem Massiv vorbeigekommen. Es ist Maßarbeit, die Gesamtenergie aus Geschwindigkeit und Höhe im richtigen Bereich zu halten. Da der Aufwind sowieso in 2300 m aufhört, fast 700 Meter unter dem Gipfel, versuche ich einfach, in 2250 Metern in den Aufwindfeldern möglichst viel Fahrt aufzubauen und das Flugzeug dann an der Wand entlang ausschießen zu lassen bis zum nächsten Punkt, den ich mir vom Hinflug gemerkt hatte. Sobald ich diese Methode kapiert habe, geht es deutlich besser voran und ich muss kaum noch kreisen. Doch erst auf der Querung zurück zum Tennengebirge kann ich eine Minute lang tief durchatmen und ahne, dass es genauso gut hätte schief gehen können.

Aufgabe abgebrochen, Rekord verloren. War es wirklich die richtige Entscheidung? Wäre der Wendepunkt noch drin gewesen? Selbst wenn, es hätte mich in dem schwachen Hangaufwind so weit hinter den Zeitplan geworfen, dass es ohnehin nicht geklappt hätte. Aber was, wenn es doch gegangen wäre? Jetzt ist Ruhe, sage ich laut. Heute ist noch lange nicht vorbei. Eines der größten Probleme des Fluges – die Erfüllung der deklarierten Aufgabe – ist vom Tisch. Können wir jetzt bitte mit dem Fliegen weiter machen? Je nachdem wie es gegen den Wind läuft – denn bisher läuft es ganz akteptabel – sind die tausend Kilometer als freie Strecke noch drin. Vielleicht weniger, vielleicht mehr. Einfach fliegen, hat sie gestern Abend gesagt. Also los, flieg einfach.

Ich brauche noch bis zum Steinernen Meer, um das Gedanken-Ping-Pong zu überwinden und die neue Situation ganz zu akzeptieren. Die Hänge tragen so schwach und zahm wie auf dem Hinflug, nur die Querungen kosten durch den Gegenwind jeweils fast die doppelte Höhe, und damit auch fast die dreifache Zeit. An der schwierigsten Lücke der Region, dem Schuss gegen den Wind zum Hochkönig-Gipfel aus Nordosten, hilft mir eine schwache, sehr enge Welle aus der Patsche, die mich knapp über 3000 m trägt. Sie bringt mich auf den Gedanken, was heute Abend noch alles im Westen, im Schweizer Wellensystem, möglich sein könnte…

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Knapp 50 Felskilometer weiter westlich – alles fühlt sich an wie gewohnt, nur die Landschaft fährt langsamer vorbei als im Normalfall – traue ich mich dann sogar wieder, mit Zahlen zu arbeiten. Sehen wir den Fakten ins Gesicht, ich fliege seit der Wende eine Schnittgeschwindigkeit von 73 km/h über Grund, obwohl die Hangflugroute insgesamt eher besser läuft als auf dem Hinflug. Der Westwind fordert seinen Tribut. Die nötigen 110 km/h für eine Vollendung der Aufgabe bis zur Dunkelheit wären nicht annähernd realistisch gewesen. In diesem Moment schneide ich beim Abflug von den Loferer Steinberge durch laminares, klar definiertes Steigen. Ich ziehe den Discus in einen engen Kreis und versuche zu holen, was ich kriegen kann. Die Kaiser-Rofan-Lücke liegt noch eine halbe Stunde voraus, aber vielleicht kann ich hier schon mit der Lösung beginnen. In 3500 m Höhe flaut das Wellensteigen ab. Was tun mit diesem willkommenen Kapital?

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Lektion Elf – Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Auf dem Flug des 4.11. letztes Jahr war es mein Begleiter Mark Fingerle, der als Erster die Idee formulierte, den Kaiser komplett auszulassen und durch die Rotoren am Kitzbüheler Horn direkt in die Wildschönau zu springen, um auf diese Weise den gebündelten Windstrahl des Inntal-Outflow nicht direkt ins Gesicht zu bekommen. Vom Hinflug her weiß ich, dass es auch heute aus dem Hangaufwind des Kaisers heraus gegen die Talauswärts schießende Luft keinen direkten Weg zum Rofan geben kann. Also nutze ich die Chance der unerwarteten Höhe aus der Loferer-Welle, um ein Stück nach Süden zu verlagern. Einzelne, kaum erkennbare zerbrochene Cumuli wehen über dem Horn und der Hohen Salve. Der Gleitsprung kostet mich tausend Meter Höhe auf 13 Kilometer, aber ich bin immer noch in einer besseren Position, als die Südwand des Kaisers mir je liefern könnte. Zum ersten Mal seit Stunden werde ich wieder von ernsthafter Turbulenz getroffen. Für einige Kilometer kann ich meine Höhe dann parallel zum Gelände etwa halten, doch einige vorsichtige Kreise bringen nichts. Trotzdem finde ich mich über der Hohen Salve in 2600 m Höhe wieder, und aus der Statistik heraus weiß ich, dass von hier aus auch schon tiefere Attacken auf den Rofan erfolgreich geflogen wurden. Vorsichtig drücke ich weiter – ich muss 180 km/h fliegen, um überhaupt sinnvoll vorwärts zu kommen. Und dann bricht die Hölle über mich herein.

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Die Ordnung der Dinge in der Kabine, die schon früh morgens beim Schlepp gnadenlos durch Schütteln umverteilt wurden, gerät nun endgültig aus den Fugen. Das Variometer steht minutenlang entweder am unteren oder am oberen Anschlag, ohne jemals in der Mitte stehen zu bleiben. Ich habe kaum Zeit auf den Höhenmesser zu schauen, doch ich weiß, dass ich in der Summe stetig verliere. Auf halber Strecke zum Zillertalausgang, wo der Gegenwind sprunghaft schwächer werden sollte, bin ich nur noch 1900 m hoch. Ich wüsste gerne, was hier vor sich geht. Im Luv der letzten sinnvoll geformten Rotorwolke dieser ganzen Linie finde ich schon wieder kein Steigen, sondern nur Turbulenz. Genervt drehe ich nach Norden ab, damit mich das Gelände nicht ganz verschluckt. Plötzlich reißt es den linken Flügel hoch. Dann den rechten. Dann beide. Ich halte den Knüppel voll gezogen und kann die Fahrt gerade so konstant halten. Nach einem Halbkreis falle ich wieder herunter. Kurvenwechsel. Hier ist er. Nein, weiter drüben. Mit vollen Ruderausschlägen dränge ich das Flugzeug in den Rotor der Wildschönau – warum auch immer er genau hier, auf der Nordseite der Wolke steht. Nach jedem Kreis muss ich eine Ewigkeit gerade aus fliegen, bis die nächste Böe mir wieder das Zentrum anzeigt. Es dauert bestimmt fünf Minuten, bis ich ein Konzept in dem Strudel erkennen kann, um sinnvoll Höhe zu gewinnen. Dann geht alles ganz schnell – in 2500 m kann ich über das Zillertal und das Kellerjoch wieder auf die Nordkette zielen. Dunkle Wolken verhüllen die Gipfelgrate, gefüttert von feuchter Luft, die ohne trocknenden Föhneffekt durch den Brennerkanal direkt aus dem Süden einfließt. Die Energie der Luft ist wieder auf ein ganz anderes Niveau gestiegen. Das Erlebnis des Einstiegs in den westlichen, präfrontalen Wetterraum beeindruckt mich jedes Mal aufs Neue.

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Lektion Zwölf – Neue Aussichten, alte Bekannte. Wieder wird es die Heiterwand sein, die über einen schnellen oder eben einen problematischen Weg durch das Oberinntal entscheidet. Vor genau neun Stunden ging hier alles zu Bruch, was ich mir für diese Stelle jemals an Strategie über viele Flüge hinweg ausgedacht und zurechtgelegt hatte. Vor neun Stunden wurden dort, direkt vor mir, die Weichen gestellt, die vorhin am Grimming zum Abbruch des Rekordversuches führten. Der Vorfall geht mir schon den ganzen Tag nicht aus dem Kopf. Auf der Querung über Nassereith sehe ich mich schon wieder unten am Tschirgant Achten fliegen. Insgeheim weiß ich, dass die nächsten Minuten das letzte Problem stellen werden, das zwischen mir und den tausend Kilometern steht.

Ich hole tief Luft, dann gehe ich neben die Felsen. Der Aufwind erfasst mich so rabiat, dass ich nicht auf das Variometer schauen muss, um zu wissen, dass das Spiel jetzt gewonnen ist. Es kann so einfach sein. Es kann so schnell gehen. Was ist nur passiert in der Früh? Was ist nur anders heute Abend?

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Nach einer halben Stunde kann ich in 3000 m Höhe den Arlbergpass queren. Die Sauerstoffmaske, die ich mir gerade erst wieder über die Ohren gezogen habe, riecht nach Vorfreude. Ein Blick auf die Uhr sagt, dass ich jetzt seit zehn Stunden unterwegs bin. Es fühlt sich nach viel weniger an. Ich habe den ganzen Tag über genug gegessen, getrunken und uriniert, und ich fühle mich so, als könnte ich bei all der Energie und den Möglichkeiten dieses mächtigen Tages noch ewig weiter machen. Ich kann es kaum erwarten, im Montafon wieder in die Welle einzusteigen, die wahrscheinlich die zuverlässigste der gesamten Alpen ist.

Nach einigen Suchkreisen zusammen mit zwei Schweizer Flugzeugen (später erfahre ich, dass es Tizian Steiger und Rainer Cronjäger sind) am Standardeinstieg südlich des Itonskopfes, nahe des Wasserkraftwerkes unten im Tal, finden wir den Einstieg in den laminaren Bereich. Die Steiggeschwindigkeiten sind so enorm, dass es uns im Handumdrehen mehrere hundert Höhenmeter auseinander reißt. Ich steige mit gut 8 m/s, habe aber den Verdacht, dass Rainer gut im zweistelligen Bereich gewesen sein könnte. Ich entscheide mich dafür, am Luftraumdeckel in 4600 m nicht wie morgens direkt über die Schesaplana zu queren, sondern die Welle noch ein wenig nach Nordwesten zu verfolgen, um den Höhenverlust bei der Querung zu verbessern (Nachher stellte sich heraus, dass beide Methoden genau gleich schnell waren).

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Über Bad Ragaz ist der Ort des Wellensteigens fast unverändert, doch ich finde ihn nur durch die Erfahrung des Morgens, da er auf allen vier Seiten von unübersichtlich ausufernden und pulsierenden Wolken eingerahmt ist. Die Atmosphäre kocht und schäumt, Quellungen entstehen in Sekundenschnelle und verschwinden ebenso schnell. Wieder steige ich mit über 6 m/s. In FL130 dränge ich noch bis zum Westufer des Rheintals gegen den Wind. Ich habe nun 850 Kilometer geflogen und noch gut eineinhalb Stunden Zeit bis zur Dunkelheit. Und ab jetzt nur noch Rückenwind. Ich überschlage zwei mal: Komme ich in der verbleibenden Zeit nach Hause, sind es tausend. Erreiche ich vorher sogar noch den Rofan, werden es elfhundert. 1100. Elfhundert.

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Lektion Dreizehn – Das letzte Fragezeichen. Wieder fliege ich mit knapp 300 km/h nach Osten. Die Sonne steht tief hinter mir, so dass es hinter manchen Scharten und Ausläufern der Berge, die tief unter mir durchziehen, schon fast dunkel ist. Um unter die Luftraumgrenze bei Landeck zu gelangen, tauche ich auf die Leeseite einer Rotorwolke, bis ich unter der Basis bin. An der Mieminger Kette muss ich mich entscheiden: Karwendel oder Rofan? Tausend oder elfhundert? Beim Blick auf die Uhr erschrecke ich fast: Es verbleibt immer noch eine knappe Stunde bis Sonnenuntergang, sogar etwas mehr bis zur Dunkelheit. Eine solche Chance nicht zu nutzen, einen solchen Tag nicht auf diese Weise zu würdigen, wäre undenkbar. Also hole ich tief Luft und schwenke auf die Nordkette. Direkt vor der immer breiter werdenden Staubewölkung – direkt an der Luftraumgrenze – schießt der Discus ohne einen Kreis nach Osten. Irgendwo querab Innsbruck muss ich wohl die Tausend-Kilometer-Marke überschritten haben. Ich weiß es nicht genau, weil ich die Navigationssoftware nun immer wieder für längere Zeit abschalten muss, um Strom zu sparen. Ich gehe immer nur kurz aus dem Standby-Modus, wenn ich etwas wichtiges wissen muss. Zwölf Stunden sind wir jetzt unterwegs, das kennt die „2D“ nicht, das kenne ich auch noch nicht. Das Flugzeug ist müde, und ich habe auch langsam kein Problem mehr mit dem Gedanken an einen Rückflug.

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Um kurz vor Sieben erreiche ich den Rofan und meinen für 1100 km errechneten freien Wendepunkt in 2200 m Höhe. Der Südhang des riesigen Blockes trägt kaum, aber das macht jetzt auch nichts. Auf, nach Hause nun. Noch reicht die Höhe nicht ganz, aber für die letzten 50 km verbleibt fast eine halbe Stunde Zeit, plus die Reserve zwischen Sonnenuntergang und Dämmerung. Ich überlege, was nun die eleganteste Lösung ist.

Wenn ich es mir recht überlege, ist die Situation gerade ganz schön vertrackt, die Zeit knapp, die Höhe nicht ausreichend, die Optionen mangelhaft. Bin ich etwa über die letzte Stunde des einfachen Rückenwindfliegens zu passiv, zu gleichgültig geworden, oder zählt das noch als Souveränität? Ich erinnere mich an einen Flug vor einem knappen Jahr, an dem ich in einer ähnlichen Situation über den Achensee von hinten in die Rotorlinie der Karwendelkette eingestiegen bin. Ein kurzer Blick bestätigt, das die Wolken auch diesmal hinter dem Stanser Joch wirbeln und wehen. In 2000 m steche ich dorthin, wo der Rotor stehen könnte. Nach drei Kreisen ist die ganze Umgebung abgestastet, bis ich den Kern mit 3 m/s scharf durchschneide. Der letzte Tanz gehört mir. Nach ein paar hundert Metern Steigflug öffnet sich das zentrale Karwendel und das Rißtal vor mir, dahinter das Wettersteingebirge. Quellende Wolkenschwaden weisen mir den Weg und absorbieren dabei die letzten Sonnenstrahlen des Tages.

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Jede Minute von jetzt an wird der Horizont einen Teil des gleißend goldenen Lichts verschlingen. Als ich nach Norden drehe und aus 3000 m Höhe zum Endanflug nach Königsdorf ansetze, kann ich die Augen nicht von dem Schauspiel zu meiner Linken nehmen. Erst als tief unten entlang des östlichen bayerischen Alpenvorlandes die ersten Laternen in den Ortschaften angehen und größere Straßen schon als Lichterketten zu mir herauf blinken, kann ich mich losreißen und schließlich eine Antwort auf die Frage suchen, wie es wohl ist, nach fast 13 Stunden Flugzeit ein Flugzeug nach Hause zu bringen.

Epilog – Dies ist mein Geständnis. Es ist alles was ich habe, und alles was ich weiß. Dies ist die ganze Geschichte, der gescheiterte Versuch, einen deutschen und europäischen Segelflugrekord zu brechen. Es hätte fast geklappt, doch in dem Moment, in dem ich die Tausend Kilometer tatsächlich wieder überflog – zum vierten Mal in vier Jahren – war mir der Rest egal. Denn es wird einen anderen Tag geben.

Trotzdem dauerte es einige Zeit, bis ich mich getraut habe, noch einmal nüchtern nachzurechnen. Ergebnis: Selbst wenn ich den abgebrochenen, da nicht vertrauenserweckenden Ost-Teil mit 100 km/h geschafft hätte (und das wäre schneller als der Hangflug auf der tatsächlich geflogenen Strecke), wäre ich an der letzten Wende im Montafon nur 55 Minuten vor dem Einbruch der absoluten Dunkelheit gewesen. Und ein 220er Schnitt, gerechnet auf die allerletzte Minute des Tages, wäre selbst aus der Welle mit Rückenwind nicht sicher möglich gewesen. Am Ende hätten allerdings wahrscheinlich nur 15 oder 20 Minuten gefehlt – in jedem Fall weniger Zeit, als ich auf dem Tiefpunkt am frühen Morgen verloren habe. Doch gerade dafür wird es einen anderen Tag geben, und wie immer ist es auch diesmal so: Ich kann es kaum erwarten. Und dies ist die gesamte Geschichte.

Ich habe versucht, keine Fakten oder Ideen zu vereinfachen oder zu verbergen, die den Flug maßgeblich beeinflusst haben. Ich habe versucht, alles herzugeben, habe versucht dich mitzunehmen, obwohl wir beide – wie so viele – im Föhnsturm wahrscheinlich nie das Vergnügen miteinander haben werden. Doch diese Tatsache – auch wenn sie auf den ersten Blick nicht nett aussieht – soll niemanden davon abhalten, selbst an dem Thema zu arbeiten, alle Informationen zu sammeln, verschiedene fremde Flüge nachzuvollziehen, sich ausgiebig vorzubereiten, und dann immer wieder zu fliegen – den ganzen langen Weg zu gehen eben, um irgendwann seine eigene Geschichte aufschreiben zu können.

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Ein Moment im März

In jedem Frühling muss ich neu lernen, dass die Luft mich trägt, wenn ich mich nur fest genug darauf stütze.

Der Winter nützt nicht viel. Ich kann zwar die ganzen Dinge in Ordnung bringen, die im Sommer über den Haufen gefallen sind, jeden Tag brav arbeiten und studieren. Aber ich verlerne zu viel, ich vergesse wie es ist, im Zuge eines Augenblicks den Himmel in zehn gute und schlechte Abschnitte aufteilen zu können, die Rollrate des Flugzeugs mit kleinen S-Kurven zu ertasten und in der richtigen Sekunde, wenn die Strömungen der Luft mit voller Gewalt dagegen halten, mit dem ganzen Körper – von einer Flügelspitze bis zur anderen – die steile Drehung einzuleiten. Ich weiß nicht mehr, wie es sich anfühlt, unter einem abgetrockneten, grauen Himmel an den letzten fünfzig Kilometern bitter zu verzweifeln und vergesse sogar das Gefühl, mit 200 km/h als erster über die Ziellinie zu fliegen. Und das vielleicht Schlimmste ist, dass ich mir nicht mehr vorstellen kann, wie in aller Welt ich es schaffen soll, das alles wieder intuitiv auf die Reihe zu kriegen.

Klar, ich habe die ganzen harten Dinge im Kopf, so gut ich kann. Radio Mandatory Zone, Pic de Bure, L’Hotellierverschluss, nautische Meile. Und natürlich Querruder, Seitenruder, Höhenruder, Bremsklappen, Wölbklappen, Fahrwerkshebel, Trimmung, Ausklinkknopf, Haubennotabwurf. Aber das ist nicht Segelfliegen. Das ist nur Fliegen.

Die wenigen Flüge im Winter sind… anders. Föhnfliegen ist so schwierig, dass jeder Flug ohnehin fernab von der Routine liegt. Sich stundenlang voller Anspannung durch die sturmgepeitschten Nordalpen zu improvisieren, hat nichts mit dem eindringlichen Rhythmus zu tun, der mich im Sommerhalbjahr von Flug zu Flug trägt und den ich im Winterhalbjahr so leicht verliere. Ich muss so viele Dinge jeden Frühling neu lernen, um nicht mehr weiter improvisieren zu müssen.

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Der beste Moment ist der, wenn zum ersten Mal ein Plan wieder vollkommen aufgeht. Zehnter März, einige dünne Schichtwolken dimmen das Licht über der Provence schon am Vormittag. TopTask rechnet für den Nachmittag wenige Cumuluswolken im Osten, schwierig hinzukommen, schwer zurück zu kommen. Wie so oft klinke ich in 500 m am Hang der Aiguille. Der Flugplatz Serres ist noch nicht ganz aus dem Winterschlaf erwacht, nur wenige Flugzeuge finden so früh im Jahr den Weg hier herauf. Eine sehr persönliche, vertraute Stimmung. Zu dritt steigen wir in der schwachen Mittagsthermik aus der Felswand heraus. Ein paar Minuten später gehe ich über den Arambre nach Nordosten an die Crete de Selles. Das düstere Licht macht es schwierig, die wenigen Stellen im hohen Gelände zu finden, an denen es zu dieser Tages- und Jahreszeit schon warm genug für Aufwind ist. Die anderen habe ich aus den Augen verloren – ich nehme mich zusammen und springe über das breite Tal der Durance. Was im September noch lächerlich erschienen ist, kostet mich nach der Winterpause eine ganze Menge Nerven. Unsicher taste ich den Grat des Maloup nach Steigen ab. Ich treffe nach dem zweiten Suchkreis – Zufall? Zurück auf 1900 m – höher geht es einfach nicht – entscheide ich mich für den südlichen Weg. Das unwegsame Gelände in Richtung Seyne fordert mehr Höhe, und entlag der Durance habe ich die Flugplätze von Sisteron und Saint Auban als Fluchtmöglichkeit.

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Eine halbe Stunde später finde ich mich am Col de Authon im untersten Stockwerk wieder. Zuvor: Am Hongrie bei Sisteron reichte die Thermik nur noch auf 1800 m, am Gache nur auf 1500. Ich habe das ungute Gefühl, irgendwie in die Falle getappt zu sein. Zusammen mit vier französischen Flugzeugen, die das gleiche Problem haben, gehe ich an die Vaumuse, und nach quälender Suche zwängen wir uns allesamt in einen schwachen Meter am Hangfuß. Langsam bin ich dafür, den Tag aufzugeben und mich – sollte ich überhaupt jemals ankommen – zurück zu meinen lieben Freunden und Gastgebern in Serres zu schleichen. Das allerdings ist der Moment, in dem ich die Cumuluswolke entdecke.

Sie ist verdammt weit weg und verdammt hoch, irgendwo jenseits des Blayeul, ich schätze sie auf 3000 Meter. Ein surreales Bild an einem so stabilen, weichen Tag wie heute: Sie passt gar nicht so richtig in den Himmel, hebt sich in der Ferne scharf von den blassen Cirren ab. Ein klareres Zeichen könnte es nicht geben. Ich habe keine Ahnung, wie man am besten dort hin kommt, aber es sollte möglich sein.

Und auf einmal, ganz plötzlich fällt mir alles wieder ein. Auf einmal weiß ich, was zu tun ist, und dass ich überhaupt keine Angst zu haben brauche. Einfach über die Rippen nach Osten fliegen bis kurz vor Digne, gnadenlos auf das Landefeld bei Marcoux abstützen wenn es sein muss. Und dann an die Crete de Liman.

Ich beginne meinen Gleitflug nach Osten, und gleich ist alles anders. Die Strömung zuckt und drängt mich zur Seite, ich muss nicht viel überlegen, um die beste Linie zu finden. Der Gleitsprung mitten ins Gelände ist riskant, aber er kostet weniger Höhe als gedacht. Nördlich Digne trägt es mich an einem Nordosthang von 1400 endlich wieder auf 1900 Meter. Das ist immer noch niedrig, aber hoch genug. Und die Wolke ist noch da, ich kann ihre Position jetzt genauer erkennen: Sie müsste wohl in der Konfluenzzone nördlich des Blayeul stehen, dort wo sich die lokalen Windsysteme aus Norden, Süden und Westen an manchem Tag vermischen. Noch ein schwacher Bart an der Crete de Liman, und ich bin hoffentlich da.

Vor mir baut sich der Bayeul auf wie ein riesiger, schlafender Drache. Von rechts erreicht mehr Sonneneinstrahlung den Rücken, von links kann mehr Luft nachströmen. Um einfach genau darüber zu fliegen, fehlen mir viele hundert Meter Höhe. Ich entscheide mich für rechts, weiß gar nicht so richtig warum. Aber nach zwei Kilometern hebt sich ein Flügel und nach einer weiten Schleife weiß ich, dass jetzt alles zum Greifen nahe ist: Wieder steige ich mit knapp 1 m/s und auch wenn es nur 250 Höhenmeter sind, immer noch tief unter dem Gipfel des Bayeul – Es sind nur noch zehn Kilometer bis zur Wolke.

Eine halbe Stunde später bin auf 3100 Meter Höhe – der Parcours steht mir frei, und ich kann immer mehr kleine Quellwolken über den tief verschneiten Gipfeln erkennen.

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Eine winzige Dosis zusätzlichen Sauerstoff pro Atemzug. Es hat tatsächlich funktioniert. Wie in einem Rausch folge ich den fast unsichtbaren, durchsichtigen Wolkenfetzen, die von der Thermik der tief verschneiten Trois Evechés herauf wehen, nach Norden. Die Energie der Luft ist durch die hohen Cirruswolken so schwach und weich, dass ich kaum auszuatmen wage, jedes Mal wenn eine Bergflanke mich wieder ein paar hundert Meter hinauf hebt.

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An der Dormillouse drehe ich um und folge der Rennbahn vorsichtig nach Süden. Nur 30 Kilometer breit ist die Zone der wenigen Cumuluswolken dieses Nachmittags. Wohin ich auch schaue, sehe ich weiß – Der Schnee reicht hier im hohen Gelände noch fast bis in die Täler hinunter, und über dem Westen verwischen immer dichtere Wolkenschleier das Licht zu einem hellblassen Ton. Am Carton gehe ich mit nur 0,5 m/s noch einmal an die Basis. Ich werde wieder so vorsichtig wie im ersten Teil des Fluges, aber diesmal weiß ich, dass ich das muss. Es ist fast halb fünf, so früh im März. Ich beginne zu frösteln, auch wenn die bleiche Sonne mir bei jedem Kreis einmal voll in die Kapsel leuchtet. Zeit, umzukehren – das könnte noch mal knapp werden. Noch fehlen mir ein paar Meter Höhe für den Rückflug.

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Die letzte Wolke auf Heimatkurs steht immer noch in der Konfluenz am Blayeul, aber sicher auch nicht mehr lange. Als ich mich zügig annähere, empfange ich 15 km voraus ein Signal im Butterfly. Es ist Klaus Ohlmann, der gerade knapp unter der Wolkenbasis zum Endanflug nach Serres ansetzt. So wie ich die Wolke erreiche, ist sie nur noch ein dünner Schleier über mir. Nach dem dritten Kreis finde ich mich damit ab, dass es nur noch 0,3 m/s Steigen gibt, und beginne das Geduldsspiel.

Sobald ich mit dem letzten Hauch von Thermik die 2700 m noch einmal erreicht habe, fliege ich los. Der Rechner sagt knapp 200 Meter Reserve auf Serres, aber die Luft vor mir sieht so ungestört aus, dass ich ihm Glauben schenke. Bald kommt La Motte aus dem Gegenlicht, dann die Durance. Als ich ansetze, das Tal zu überqueren, ist die Höhenreserve auf fast 300 Meter angestiegen – ich werde ankommen. Ich trimme auf 100 km/h, richte für die letzten 50 km noch einmal nach Westen aus, lege mich in den ruhigen Abendhimmel und kann spüren, dass die Luft mich trägt.

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Sturm Nummer vierzehn

Die erste Wahrheit ist: Der längste Flug meines Lebens dauerte 4 Jahre, 340 Tage, 4 Stunden und 31 Minuten.

Er endete mit einer Landung bei Sonnenuntergang an einem Herbsttag, den ich auch Monate später immer noch als „letzten Dienstag“ bezeichnen werde – der letzte Dienstag einer wilden Phase voller Aufregung und Überraschung, Idealismus und Misserfolg.

All die lange Zeit war ein Beginn, ein Anfang, Lehrjahre, in denen ich in jeder Hinsicht lernte, was es bedeutet, gegen den Sturm zu fliegen. Wenn ich nun, nach jenem denkwürdigen Dienstag, zurückschaue, dann sehe ich bunte Farben. Ich sehe den dunkelblauen Nachthimmel im Advent 2009, in dessen fahlem Mondlicht ich schlaflos durch den lauen Wind auf der Königsdorfer Landepiste streifend, zum ersten Mal in meinem Leben eine Lenticulariswolke erkannte. Ich sehe das hellgelbe, gleißende Sonnenlicht, das die Kanzel des Discus-2 von allen Seiten her plötzlich überflutet, als ich aus den düsteren Schatten der Rotorwolken des Karwendelgebirges hervorschieße und es still wird, so dass ich eine Weile brauche, um zu erkennen, dass ich diesmal getroffen habe, dass ich endlich den Weg in die Welle gefunden habe. Ich sehe die schrill türkisen Gletscherseen am Rand der neuseeländischen Alpen, deren Farben sich in der aufgebrochenen Wolkendecke zu spiegeln scheinen. Ich sehe das fühlingshaft grüne Band der Montagne de Lure, auf dessen Kamm sich der dichte Wald wenige Meter neben mir in den Sturmböen des Mistralwindes verbiegt und flimmert. Und ich sehe, wie die Morgendämmerung nach einer Novembernacht den letzten Dienstag einläutet, während wir den Arcus zum Start schieben, angezogen wie die letzten Astronauten.

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Um 07:03 hebt sich das Feuer über den Horizont. Rot knallt in das Blau, und ein neuer Versuch, mein vierzehnter Flug bei Südföhn, zieht mich in einen Bann, dem ich schon seit fast fünf Jahren viel zu tief verfallen bin.

Die zweite Wahrheit ist, dass ich ein Werwolf bin. Ich kann gar nichts dafür, dass ich mich verwandele, sobald die Windstationen am Alpenhauptkamm auf Süd einschwenken und die ersten Fetzen unnatürlich warmer Luft durch das Alpenvorland fahren wie Geister von den Festungsmauern einer alten, steinernen Burg. Ist die Entscheidung zum Fliegen gefallen, spätestens 36 Stunden vor dem Start, dann ziehe ich eine stabile, durchsichtige Blase um mich, in der ich mich in Ruhe sammeln kann. Mindestens ein ganzer Tag vergeht dann damit, die Windkarten zu studieren, die Ausrüstung vorzubereiten, die Tageszeit in einen Baum von Streckenmöglichkeiten umzurechnen und möglichst viele Entscheidungen voraus zu denken, während draußen die Arbeit und die Leute einfach  vorbeifließen, mein Telefon vor lauter Anrufen und Nachrichten zu verglühen droht und alles seinen Weg geht. Solange, bis das Spiel gewonnen ist. Die Spielregeln: Du darfst alles tun, damit du acht Stunden vor dem Start am Flugplatz in deinem Schlafsack liegst und alles, ALLES erledigt ist, alle Batterien geladen, alle Ausrüstung im Flugzeug, alle Kleidung in der richtigen Reihenfolge neben dem Bett, der Schlepppilot und ein Helfer alarmiert, alle kritischen Uhrzeiten des Fluges auswendig gelernt, alle Checks gemacht. Einen ernst gemeinten Frühstart in den Föhn zu tun, klingt simpel – doch ich habe es in meiner Handvoll Erfahrungen als eine enorme mentale und organisatorische Herausforderung erlebt, die keine Fehler zulässt und einen enormen Aufwand mit einer nahezu kindischen, natürlichen Nervosität verbindet. Egal ob mich am nächsten Morgen höchstens ein lokales Wellenspiel oder doch ein Tausend-Kilometer-Versuch erwartet, löst der Gedanke an einen Start bei Sonnenaufgang in mir eine Aufregung aus, der ich nie vollständig gewachsen sein werde.

Ich weiß, dass Mark mir nie sagen kann, was er sich gedacht hat, als das Seil straff wurde und wir über den Morgennebel in einen klaren Himmel hinein starteten, an dessen Südende die schwarze Alpenmauer mit scharf zersplitterten Wolkenzeichen auf uns wartete. Wir versuchen 750 Kilometer, hatte ich ihm abends gesagt, ich habe ein Experiment vorbereitet. Wenn die Tage wieder länger als zehn, elf Stunden werden, möchte ich beim nächsten Sturm die tausend versuchen. Heute nicht, denn es sind nur gut neuneinhalb Stunden Tageslicht, davon fällt eine halbe Stunde für den Schlepp und den Einstieg in das System weg. Machen wir uns keine Illusionen, ich habe es schon einmal an einem längeren Tag versucht, und ich habe es nicht gepackt. „Der Föhn ist oft stärker als die Psyche und die Struktur“, Davids Worte werde ich nicht vergessen. Ja, heute war einiges zu holen, nur hätte ich da noch ein, zwei offene Fragen. Fragen, die ich heute lösen wollte, aber auf keinen Fall unter einem Zeitdruck, den ich im Föhn als so gefährlich kennen gelernt hatte.

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Der Wind am Alpenrand war nicht sonderlich stark und es gab wenig zu tun, während wir Christian mit der Schlepp-Remo im gleißenden Morgenlicht nach Süden folgten. Gespannt wartete ich auf die ersten zaghaften Turbulenzen. Ich musste die Hand über den Bildschirm halten, um in der Explosion des gleißenden Sonnenaufganges die Ground Speed vom GPS ablesen zu können. Querab Penzberg schaukelte der Schleppzug zum ersten Mal, und ich konnte beobachten, wie der Gegenwind nun mit jedem Schritt, den wir näher an die Randberge gelangten, ein wenig stärker wurde. In 1500 m MSL schienen 30 km/h Südwind gegen uns zu stehen. Das Windfeld war ganz nah.

Sobald wir Bichl und den Flugplatz Benediktbeuern überquerten, begann der Tanz. Die schwere Remo machte Sätze nach allen Richtungen und die Fahrtsprünge schossen hart an uns vorbei. Sobald ich ganz sicher sein konnte, warf ich in 2000 Metern MSL das Seil ab und stellte den Arcus auf den rechten, dann auf den linken Flügel, begann zu tasten und zu schwenken. Zwei Kilometer vor dem Alpenrand, direkt am Ostufer des Kochelsee, nahmen die Turbulenzen ein einheitliches Muster an. In 60 km/h Wind mussten Mark und ich nur wenige Bewegungen machen, um mit 3 m/s in die erste Leewelle des Tages hinauf zu steigen.

Eine Viertelstunde später waren wir 2000 Meter höher und konnten alles sehen. Südlich des Alpenhauptkammes blickten wir im flachen Winkel auf ein weißes Meer dichter Wolken. Darüber und auf unserer Seite füllte ein dunkelblauer Himmel den Horizont, und flache Cirruswolken erzählten von der Kaltfront, die 300 Kilometer weiter westlich gegen das Gelände zu kämpfen begonnen hatte und den Wind über dem gesamten Alpenbogen zum Sturm aufschwingen ließ, ein Sturm, den wir seit Februar nicht mehr gesehen hatten und der tief unten an den Kanten der Felswände einzelne scherbenhafte Rotorwolken in das Relief streute. Gegen 90 km/h Wind stellte ich mich kurz regungslos in die Strömung – es war ein Föhnsturm, wie man ihn sich wünschen, wie man sich vor ihm fürchten und wie man von ihm noch lange erzählen kann. Dann schob ich alle Hebel im Cockpit weit nach vorne und begann meinen lange einstudierten Tanz nach Süden.

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Die brachiale Taktik – auf FL 130 steigen und anschließend mit Höchstgeschwindigkeit eine Wellenlänge nach vorne stürzen – brachte uns in drei einfachen Schritten über den Walchensee und Krün direkt ins Herz des Windfeldes, in den Einflussbereich der großen Föhntäler, deren Verlauf ich den ganzen Tag zu folgen plante. Das schwierigste am Föhnfliegen ist die Kontrolle über das Höhenband. Der Wind verschiebt die Dimensionen zwischen zwei Knotenpunkten ins Absurde – auf dem dritten Sprung, der aus dem Leerotor in den Luvhang des Wettersteins führte, verloren wir tausend Meter Höhe auf acht Kilometern. In respektvollem Abstand folgte ich den Felsen nach Westen zur Zugspitze hinauf.

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Die Heiterwand, der letzte sichere Luvhang vor der Parseierspitze, ist die Schlüsselstelle für den Überflug des noch knapp 50 km entfernten Arlbergpasses. Hier nicht die maximale Höhe aus dem Hang mitzunehmen bedeutet in den meisten Fällen, chancenlos über die folgenden vier Querstege an Imst vorbei im turbulenten Sinken fliegen zu müssen und zu tief über Landeck am Hang des Parseier anzukommen, an dem sich der Windstrahl auf halber Berghöhe oft nach oben und unten aufteilt. Wer hier in den unteren Ast fällt, verliert sämtliche Optionen und nicht selten mehrere Stunden Zeit, wenn er nicht bereits in die Windstille des untersten Talbereiches gefallen ist. Der Weg durch das Oberinntal nach Westen ist bei Föhn eine der drei unangenehmsten Stellen der Nordalpen.

Vorbeiflug Imst

Mit größter Vorsicht flog ich in den „Hexenkessel“. Gerne opferte ich zwischen jeder der vier Rippen einige Minuten, um den Turbulenzen ein paar wertvolle Meter abzuringen, nur nicht unter 2800 m in die „Todeszone“ zu sinken. Ich vergebe solche Namen gezielt bei der Vorbereitung, um dem Unterbewusstsein die Nulltoleranz kritischer Stellen einzuprägen. Meine Gedanken basieren mehr auf Sprache und sind weniger sensibel für Zahlen. Den Luvhang der Parseierspitze erreichten wir in 2900 Metern.

Der obere Teil des Parseier ist immer mit einer Welle überlagert; die Wellenlänge ist meiner Erfahrung nach weder von Tag zu Tag, noch von Stunde zu Stunde konstant. Um ein Bild über die Lage zu bekommen, unterscheide ich drei Fälle: Ist die Windrichtung am Luvhang seltsam und setzt schon im Anflug starkes Sinken ein, steht der aufsteigende Ast der Welle über der Talmitte, und der Luvhang führt direkt hinunter ins Verderben. Trägt der Hang schwach weiter nach Westen, befindet sich der positive Wellenast sehr weit auf der gegenüberliegenden Talseite nahe der steilen Leewand des Hohen Riffler und ist somit ohne Risiko nicht erreichbar. Heute allerdings war das Glück auf meiner Seite, denn im dritten Falle ist die Parseierspitze positiv von der Welle überlagert. Kaum schossen wir um die Ecke des Hauptgrates, erfasste uns das ruhige Steigen mit über 5 m/s. Aus knapp 15000 Fuß stand uns der Westen wenige Minuten später frei. Die tiefen Rotorwolken zeigten uns ein dichtes, gerades Muster von Energie, und ich wusste, dass wir nun nicht mehr langsamer als 200 km/h fliegen mussten. Zum ersten Mal in diesem Flug ließ ich den Steuerknüppel los, und begann deutliche, direkte, wohl gewählte Worte ruhig nach hinten zu sprechen.

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In der nächsten halben Stunde lernte Mark, einem Wellenband zu folgen. Auch wenn der Aufwind im Großen und Ganzen geradeaus führte, sehr stark war und noch dazu tief unten von einem Wolkenmuster nachgeformt wurde, hatten wir eine aufregende Zeit im Cockpit: Ich musste auf Mark aufpassen, und der Arme durfte nicht über die Manövergeschwindigkeit gehen, nicht ineffizient langsam werden, sich nicht von dem Wolkenbild verwirren lassen, das sich mit 100 km/h nach rechts verschob, während wir einen geraden Kurs über dem Boden fliegen mussten. Er durfte nicht durch die Wolken fliegen, die uns immer wieder den Weg versperrten, musste dabei trotzdem in der Aufwindzone bleiben, durfte sich aber nicht über FL 155 heben und den durchschnittlichen Kurs nicht zu weit von der Westlinie abkommen lassen. Mark musste hart arbeiten, und nach 40 Kilometern Chaos begann es funktionieren. Ich atmete tief durch, ließ den Sauerstoff auf mich wirken und widmete mich kurz dem GPS. Es war noch nicht einmal halb zehn, wir waren 144 Kilometer weit gesegelt und ich versuchte mich zu erinnern, jemals auf dem Weg an die Schweizer Grenze vom nördlichen Alpenrand her so schnell gewesen zu sein.

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Da der erlaubte Luftraum in der Schweiz an Wochentagen abgesenkt ist und an diesem Ort ohnehin der sorgsam geplante erste von drei Wendepunkten für meinen Tausenderflug lag, nahm ich knapp südlich von Feldkirch an der Grenze zu Liechtenstein das Steuer wieder an mich und drehte in einer engen Schleife auf Ostkurs, um die Generalprobe fortzusetzen. Der Rückweg durch die Wellenlinie vom Montafon über den Arlbergpass hielt, was der Hinweg versprach. Die in der Höhe kräftige Westkomponente des Sturmes verlieh uns Geschwindigkeiten jenseits der 300 km/h, da ich ohnehin zusehen musste, über Landeck wieder unterhalb der Tiroler Luftraumgrenze von FL 125 zu sein. Was auf den Hinweg fast eine Stunde gedauert hatte, verging mit Rückenwind in gut 20 Minuten. Auch die Überquerung des Imster Hexenkessels nach Nordosten bereitete außer der enormen Turbulenz keine Probleme, wie zumeist in dieser Flugrichtung. Erst an der Heiterwand reduzierte ich die Fahrt und ließ mich von oben in das Hangniveau fallen. Wie ein Automat folgte der Arcus dem Verlauf der Mieminger Kette, während ich ATIS im Funk einstellte und den Weg durch den Luftraum Innsbruck vorbereitete. Der Vormittag nahm seinen Lauf, und es war klar, dass wir an der Nordkette inzwischen nicht die einzigen Flugzeuge sein würden.

An der Hohen Munde war alle Arbeit im Funk und GPS wieder erledigt, damit wir uns einen Überblick über die Luftströmungen im Unterinntal verschaffen konnten. Die Gipfel der Nordkette versteckten sich in tiefen Quellwolken – eine unangenehme Aussicht, aber zugleich ein gutes Omen. Mark bekam einen kurzen Crashkurs über den Brennerstrahl zu hören, in dem große Mengen an Luft aus der feuchten Grundschicht des Bozener Beckens durch den Einschnitt im Alpenhauptkamm gepresst werden. Der Strahl trifft erst nördlich der Stadt Innsbruck auf sein erstes Hindernis, die Nordkette, wo er oft heftigen Hangaufwind erzeugt und einem die niedrigen Wolken so manche Falle stellen können.

Über Seefeld begannen wir, Höhe zu verlieren. Irgendwo muss die viele Brennerluft ja hin, und so teilt sie sich in einen linken Ast mit starkem Ostwind, und schießt nach rechts als fast reiner Westwind das Inntal hinaus über Kufstein. Wie man das Ostwind-Lee der Reitherspitze möglichst gut vermeidet, habe ich noch nicht herausgefunden, und wieder kostete uns der Anflug um den Eckpfeiler fast 600 Meter Höhe. Die Perspektive aus 2300 m hatte mich früher in dieser Situation häufig erschreckt – einmal war ich sogar noch tausend Meter tiefer angekommen. Damals hatte es mich noch überrascht, dass die nächsten zwei Kilometer im Luv mit über 7 m/s Steigen sämtliche Probleme wieder aufhoben. Heute zielte ich an der Seegrube direkt auf die Geländekante und musste nicht einmal abdrehen, weil der Aufwind uns einfach über die Rippe hinweg hob. Beinahe wurden wir von Wolken umhüllt, aber mit einem Schritt nach Süden vor die Hebungswolken fanden wir heraus, dass der Aufwind weit über die Feuchtigkeit hinauf reichte und es sich über den Wolken leichter nach Osten fliegen ließ.

„Golf India, Sie sind frei zum Steigen auf eins drei null und direct zum Kaisergebirge“, hörten wir am Rofan in der gewohnt melodisch singenden Tonlage der Tiroler Lotsen. Die Welle aus dem Luvhang heraus ist etwas, auf das ich immer hoffe, mich aber noch nie verlassen konnte. Sie entscheidet über die Ausgangsposition für die nächste Problemstelle – den 35 Kilometer langen Sprung durch das Nichts zum Wilden Kaiser. Als ich mich auf den Weg in die Wildschönau machte, in der zwar meist auch wenig Steigen, aber zumindest das am wenigsten gefährliche Sinken zu erwarten ist, fiel mir auf, wie einfach sich mit der komfortablen Höhe vom Rofan her diese Stelle lösen ließ. Und dass es einfach sehr gut lief: an den entscheidenden Orten hatte ich bisher immer genau das Glück gehabt, das für hohe Geschwindigkeiten essentiell ist. Der Flug funktionierte so flüssig, wie ich es bisher nur von dem kurzen, heftigen Ritt nach Westen im Februar kannte.

Der Hangaufwind über dem steilen Grat des Wilden Kaiser genügte gerade so, um unsere Höhe in 2800 m zu halten. Auch an St. Johann vorbei zum Wallerberg rührte sich insgesamt nicht viel, wir verloren ein wenig Höhe. Ich musste auf die Instrumente schauen und ein wenig rechnen, um sicher zu gehen, dass der Südwind immer noch über 50 km/h stark war. Im Rückblick auf die Turbulenzen, die Feuchtigkeit, das düstere, flache Licht und die Finsternis der vergangenen dreieinhalb Stunden lag der Osten des Föhnstreifens nun vor uns wie eine andere Welt. Der Einfluss der Front war hier noch nicht stark genug, um für dichte Wolken in den höheren Schichten zu sorgen – lediglich vom Alpenhauptkamm her schwappten tiefe, helle Fetzen von Feuchte zu uns herüber und sortierten sich im Bereich der Rotoren flüchtig zu winzigen, scharf geschnittenen Hebungswolken. So erreichten wir die Leoganger Steinberge in einer strahlenden Mittagssonne und konnten voraus das Steinerne Meer und weit dahinter die Kalkwände der Steiermark gegen den glasklaren, tiefblauen Himmel erkennen.

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Um mich auf die neue Situation einzustellen, fasste ich den Entschluss, an jedem Knotenpunkt mindestens einmal auf 2700 Meter zu steigen, und dabei nicht unbedingt auf die Uhr zu sehen. Die sanfte Wetteroptik und das ungewohnt ruhige Fluggefühl bestätigte sich im Hangaufwind, der nun kaum mehr die 2-3 m/s überschritt, dafür aber breiter und verlässlicher an den Steilwänden lag. Da das Sperrgebiet Hochfilzen aktiv war, versuchte ich den direkten Weg zum Steinernen Meer zu finden. An der Flanke sackten wir mehrere hundert Meter nach unten, aber sobald wir um den Eckpfeiler bogen, begannen wir wieder zu steigen. In der Nähe des Gipfelplateaus wurden die Schläge in der Luft wieder heftig wie zuvor im Westen.

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Vom Gletscher, der auf der Rückseite des Hochkönig-Plateaus beginnt und nach Norden herabfließt, stießen heftige Schneewolken mit dem Wind nach oben. Als wir nah genug kamen, erkannte ich, wie die Wolke aus feinen, weißen Flocken ein Abbild der Strömungen um den Berg zeichnete. Nur wenige Sekunden lang formte das Weiß ein Muster in die klare Luft, einen Wirbel, der vom Sturm zu rasanten Bewegungen getrieben wurde und dabei im Ganzen ortsfest über dem Plateau stand. Er rotierte um eine vertikale Achse, und es traf mich wie ein Hammerschlag. Vieles hätte ich mir vorstellen können, einen horizontalen Rotor, einen Randwirbel seitlich des Massivs oder eine flach schießende Strömung. Jahrelang hatte ich mir gewünscht, einmal die Luft durch das Relief fließen sehen zu können, nur eine Sekunde lang – und nun, da mir diese Möglichkeit untergekommen war, konnte ich nichts damit anfangen. Noch bevor ich meine Kamera hervor gekramt und das Flugzeug gegen die starken Schläge stabilisiert hatte, war der Spuk vorbei. Ich verließ den Hochkönig mit dem Gefühl, irgendetwas bedeutendes nicht verstanden zu haben.

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Über den Rossbrand gelangten wir über einen weiten Sprung mit ein paar schwachen Rotoren zum Dachstein. Noch bevor wir in den Bereich des Hangaufwindes kamen, empfing uns eine kräftige Wellenströmung, in der ich rasch auf FL 125 klettern konnte. So ließ ich mich von oben in den steilen Südhang des Hohen Dachsteins fallen und nahm mit über 200 km/h Kurs auf den Grimming. Auf dem Gleitflug begann ich nachzudenken, zu rechnen und zu fühlen: Etwas mehr als vier Stunden waren nun seit dem Ausklinken vergangen, und wir hatten knapp 500 Kilometer zurück gelegt. Ich dachte an die noch verbleibende Tageszeit, und bekam eine Gänsehaut, wie sie einen nur in Momenten sehr wichtiger, jäh aufkommender Entscheidungen überzieht. Es war etwas weniger als die Hälfte der verfügbaren Tageszeit vergangen. Natürlich, wir waren die letzten 330 Kilometer mit Rückenwindkomponente geflogen, aber nun kannte ich die wichtigen Punkte vom Hinflug. Was, wenn ich in der zweiten Hälfte des Fluges genau so schnell bin wie in der ersten? Ich dachte an Hermann Trimmels Worte, „…man muss alle Dinge versuchen, wenn sie nicht komplett vollkommen aussichtslos undenkbar erscheinen.“ So besprach ich mit Mark, nun erstmals vom Plan abzuweichen und nicht noch weiter nach Osten zu fliegen, um nicht in der spürbaren Westkomponente des Windes mehr Zeit beim Rückflug zu verlieren als notwendig. Für die OLC-Regeln konnten wir dann schließlich immerhin noch drei Wendepunkte setzen, und ich hatte auch schon eine ungefähre Vorstellung davon, wo. Innerhalb von wenigen Minuten hatte sich in meinem Kopf eine Idee geformt, als wäre sie schon immer da gewesen: Tausend Kilometer im Föhn, und zwar nicht irgendwann, sondern heute.

Um 11:41 Uhr drehte ich den Arcus über dem Gipfel des Grimming scharf zurück auf Westkurs.

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Der Westwind war weniger störend, als ich ihn auf dem Hinweg als helfend empfunden hatte. Zwar war die Ausgangslage jetzt deutlich niedriger, aber in der Dachsteinwand konnten wir immer wieder angenehme Höhenmeter mitnehmen. Am Ende des Massivs schließlich verwies uns ein scharfer Wolkensplitter mit heftigen Turbulenzen wieder zurück über 3500 m. Den Schritt zurück zum Hochkönig flog ich wie morgens beim Einstieg nach Südwesten: Mit Maximalgeschwindigkeit vorstechen und darauf vertrauen, dass luvseits die nächste Welle steht. Wir gewannen, verloren, und gewannen wieder mehr als tausend Meter Höhe in einem Zug.

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Der Flug gegen die Uhr hatte begonnen, und es lief nicht einmal schlecht. Permanent entwickelten wir Ideen, an welchen Stellen wir im Vergleich zum Hinflug einige Minuten gewinnen konnten und welche kleinen Fallen vermeiden. An den Leoganger Steinbergen, deren östliches Ende aus dem Gefahrengebiet Hochfilzen heraus ragt, war es Mark, der den Vorschlag brachte, diesmal südlich am Luftraum vorbei zu fliegen und den Rotorwolken zu folgen, die am Kitzbüheler Horn wirbelten. Diese Strategie hatte den Vorteil, relativ weit im Luv zu fliegen und sich im Falle eines Fehlschlages immer noch bequem mit Rückenwind an den Hang des Wilden Kaisers treiben lassen zu können.

Erst nachdem wir die Entscheidung längst umgesetzt hatten, wurde uns bewusst, wie genial diese Methode war: hinter der Rotorwolke am Horn folgte eine weitere, und so reihte sich ein ganzes Wellenband durch die Kitzbüheler Alpen nach Westen. Mit der Sicherheit des Wilden Kaisers im Norden tasteten wir uns vor, ohne Höhe zu verlieren. Per Funk bereitete ich den Eintritt in den Kontrollbereich von Innsbruck vor. Die Linie des besten Steigens verfolgten wir in 3500 m Höhe so weit wie möglich, bis südwestlich der Hohen Salve der Sprung zurück auf die Inntalnordseite realistisch erschien. Ich tippte eine von nur wenigen SMS, die ich während des Fluges schrieb: „Ab jetzt 100er Schnitt für 1000 km bis Sunset. Hop oder Top. Love + Kisses.“

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Vor der Talquerung schaute ich noch einmal nach der weiteren Strecke. Die Wolken wurden zunehmend dichter, und das Wetterbild gerade hinauf nach Westen fing meinen Blick einige Momente lang ein. Dann drehte ich unruhig nach Norden und dachte eine Minute lang darüber nach, was ich gerade gesehen hatte. Noch war es zu früh, sich Sorgen zu machen.

Auch wenn wir durch den Trick mit der Rotorlinie die bestmögliche Position für die Querung zum Rofan bekommen hatten, verloren wir auf dem Weg über das Tal 1300 m Höhe. Über der Talmitte wurde ich stutzig, da uns plötzlich ein ruhiger, reiner Westwind mit gut 100 km/h vom Kurs abzubringen schien. Ich musste regelrecht im Sturzflug nach Westen bohren, um an der Südwestwand des Rofan in sinnvoller Zeit und Höhe anzukommen. Am Hang begannen wir zu steigen und nahmen uns eine Minute, um die Situation zu überdenken, während auf der Radarfrequenz klagende Segler den Wellensektor fluchtartig verlassen wollten und Innsbruck erste Warnungen vor dem brüllenden Westwind auszusprechen begann. Scheinbar war es tatsächlich Regen, der das Inntal von Süden her aufzufüllen begann. Soweit wir das absurde Bild von der geschützten Position des Rofan her betrachten konnten, schwebte über der Stadt Innsbruck eine Wand aus Wasser – der feuchte Bodenstrom über den Brenner war so stark geworden, dass der Föhn in der Region zusammenbrach und aus den Regenschauern ein Sturzbach aus verdunstenden Tropfen und kalter Luft aus dem Tal heraus wallte. Innerhalb von wenigen Minuten hatte sich das Wetterbild zum Schlechtesten gewendet, das der Südföhn zu bieten hat. Die Freigabe knisterte per Funk herein und die Nordkette stand uns offen, aber ich hatte das dringende Gefühl, jetzt bloß nicht in die Falle tippen zu dürfen. Der 60-Minuten Schnitt stand knapp über 100 km/h, die Zeit saß uns im Nacken, zwar war es erst 13 Uhr, aber trotzdem nur noch knapp vier Stunden bis zum Sonnenuntergang – und noch knapp 400 Kilometer zu fliegen. Jetzt hängen zu bleiben und Zeit zu verlieren, das wäre das Ende des großen Plans, der am Grimming so verlockend möglich ausgesehen hatte. Ich muss zugeben, dass ich in gewisser Weise Angst vor dem merkwürdigen Wetterereignis über Innsbruck bekam.

Ich vertrete immer stärker die Meinung, dass Erfolg und Misserfolg beim Segelfliegen oft von der Fähigkeit abhängt, richtig Ausschau zu halten. Ich würde gerne einmal wissen, wie viel mir regelmäßig entgeht, wie viele Dinge ich übersehe und welche Chancen mir dadurch verborgen bleiben, dass ich nur nach Dingen suche, die ich auch erwarte. Ich bin kein schlechter Ausguck, aber so richtig gut werde ich erst, wenn mir sonst die Möglichkeiten aus gehen. Auf der Suche nach einer Ausrede, jetzt einfach nur nicht weiter dem Inntal folgen zu müssen, begann ich mich umzusehen. Im Westen hatte der Sturm die große, dunkelblaue und unübersichtliche Wand aufgebaut, deren genauen Verlauf ich auch aus der neuen Höhe nicht erkennen konnte. Im Süden wallten tiefe Wolken am Alpenhauptkamm, an manchen Stellen der Kette schwappte feuchte Luft nach Norden herüber und zerstreute sich bald in den Tuxer Alpen, und im Norden lagen düstere Schatten von hohen Schichtwolken der immer näher rückenden Kaltfront über dem abgedeckten Flachland. Die Föhnlücke über uns, so unregelmäßig sie auch geworden war, füllte den Bereich der Nordalpen mit einem nahezu giftigen, kaltblauen Licht. Einige Sekunden lang betrachtete ich, wie diese Farben in den scharfen Felsen auf der Rückseite der Karwedelkette verschluckt wurde. Auf einmal durchfuhr mich ein Gedanke. Die Rückseite der Karwendelkette.

Einen Moment später wusste ich, wie sich der Flug zu Ende bringen ließ, und dass ich die Lösung des Problems schon seit fast fünf Jahren kannte. Damals war ich nach stundenlangen Versuchen vom Walchensee aus zufällig in die Leewelle des Karwendel geraten und hatte zwischen Soiern und Scharfreither innerhalb von einer Minute jegliche Kontrolle über alle Energie verloren, die dort gebündelt war. In den Jahren danach begann ich immer gezielter, mich von Westen her ins zentrale Karwendel zu werfen und in den rohen Kräften des Rotorbandes  um mehrere tausend Meter zu steigen. Es war bisher immer da gewesen, einmal hatte ich mich sogar gezielt hin schleppen lassen. Irgendwann fand ich heraus, dass das Rotorband zwar nach chaotischen Wolken und Strömungen aussieht, aber dass trotzdem eine durchgehende Route im Steigen zwischen der Soiernspitze und dem Achensee existiert.

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Von Westen her kommend war ich inzwischen mit recht hoher Treffsicherheit in der Lage, den Einstieg in den Mahlstrom zu finden – nur von Osten her hatte ich es noch nie versucht. Doch am Westufer des Achensees begannen sich auf Augenhöhe im Sekundentakt Wolken zu formen und aufzulösen, tausend Meter darüber schien die Luft immer wieder  zu kondensieren und gleich nach Norden davon zu fliegen. Wenn man im richtigen Winkel auf diese Gespenster sah, dann lauerte dahinter noch eines, genau dort, wo hinter den schwarzen Felswänden eigentlich der Große Ahornboden liegen müsste. Auf der anderen Seite der Wand schossen hellweiße Wolkenzeichen empor wie schon den ganzen Tag. „Mark“, sagte ich, „wir machen es anders. Ich weiß wie es geht, und ich weiß, was wir tun müssen, wenn ich mich irre.“ „Innsbruck Radar“, sagte ich, „Golf India. Ich ändere meine Intentions, neuer Kurs vom Rofan in Richtung Nordwesten in 9000 Fuß, leaving your airspace, request frequency change, danke!“ Dann begann ich ruhig auf die zerbrochenen Wolkenreste zuzugleiten. Ich wusste, dass es nur ein einziger Steigflug war, der mich davon trennte, zurück in den sicheren Westen zu springen. Dort kannte ich die Route vom frühen Morgen her, dort war der Wind am stärksten, dort kannte ich jede kleinste Ecke an jedem Berg. Ein einziger Rotor war alles, was mich noch daran hindern konnte, heute tausend Kilometer zu fliegen. Ein Rotor, eine Wolke, erste Turbulenzen, das Vario begann zu flattern, Druck im Querruder, die Wölbklappen auf Null. „Halt dich fest, Mark“, brachte ich noch über die Lippen, bevor ich begann, mit vollen Ruderausschlägen den schweren Arcus auf Westkurs zu halten. Zwischen den Stößen und Schlägen peilte ich immer wieder über die Rippe zum Ahornboden. Eine Steigböe erwischte uns so heftig, dass das Fahrwerk entriegelte und ausfuhr. Alle Dinge, die am und im Flugzeug Lärm machen konnten, begannen gleichzeitig Lärm zu machen. Ich ruderte mit beiden Händen, versuchte die Fahrt bei 150 zu halten. Dann klappte das Gebirge unter uns zusammen. Ich hatte keine Zeit auf den Integrator zu schauen, aber nach fünfzehn Sekunden hatten wir 200 Meter Höhe gewonnen. Das war die Chance. Ich warf alles nach vorne und nutzte diese Sekunden der willkommenen Reserve, um über den Pass ins Risstal zu springen. Selten war ich mir in 3000 m Höhe so niedrig vorgekommen. Wieder begannen die Berge uns von unten einzuholen. Augenblicke lang fielen wir wieder ins Bodenlose. Wieder 200 Meter weg. Ich riss den Knüppel umher und warf mich mit dem ganzen Körper in die Pedale, um vorderhalb der Kondensfetzen zu bleiben, die uns ab nun den Weg hinaus nach Westen zeigen sollten.

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In jeder freien Sekunde stierte ich atemlos nach vorne ins Licht. Es konnte sich nur noch um ein paar Kilometer handeln. Das Sinken und Steigen vor den Konturen der grauweißen Schleier nahm einen gewissen Rhythmus an, sobald wir uns dem Scharfreither am Talausgang des Risstales näherten. Noch einmal schoben uns die Turbulenzen wild umher, dann schossen wir vor der letzten, der größten Wolke des Rotorbandes um die Ecke in die Sonne. Einige Sekunden lang schien die Welt eingefroren zu sein. Schlagartig wurde alles still, und die Luvkante der Wellenwolke glänzte im Licht der Nachmittagssonne. Keine Bewegung war mehr in der Luft, doch das Variometer stand im oberen Anschlag. „Wir haben es geschafft“, flüsterte ich. Schwer atmend begann ich die Zeit nachzurechnen. Noch gut dreieinhalb Stunden. Noch knapp 350 Kilometer durch das Stück Alpen, dass du so gut kennst, dass du dort wahrscheinlich sogar nachts fliegen könntest. Als ich in immer noch 5 m/s Steigen das Flugzeug auf 200 km/h beschleunigte, ging mir dermaßen das Herz auf, dass ich Tränen in die Augen bekam und aufpassen musste, meinen Kurs auf den Wettersteingrat nicht zu verlieren.

Der Rest des Fluges ist schnell erzählt. Der Weg ganz bis zurück nach Bludenz blieb uns von der immer näheren Front verwehrt, die uns am Parseier bei Landeck einen Schneeschauer in den Weg stellte. Manche Piloten aus der Schweiz mussten den Sprung abends nach Westen dennoch wagen und erzählten, dass es mit viel Mut und Geschick durchaus möglich war, dort noch weiter zu fliegen. Für uns allerdings bot sich an, nochmals auf der eben erprobten Route nach Osten zu fliegen, einen vierten Wendepunkt zu setzen und vom Achensee nochmal nach Westen zu dringen. Abends noch einmal bis Landeck zu fliegen, bereitete keine Probleme im abendlich zuverlässigen Hang- und Wellenspiel. Der Elmau-Rotor brachte uns ein letztes Mal auf FL130, und wir waren dem Zeitplan dermaßen davon geflogen, dass wir noch eine Dreiviertelstunde lang ins Flachland hinaus gleiten und die Abendstimmung genießen konnten. Wir landeten nach 1036 Kilometern in Königsdorf.

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Aus den vielen Gesprächen in den Wochen nach dem Flug möchte ich noch wenige Punkte hervorheben, die vielleicht interessant sind:

– Der Ansatz, aufgrund der Tageszeit keinen 1000-Kilometer-Flug zu planen, war definitiv falsch. In diesem speziellen Fall ermöglichte er mir allerdings, in geistiger Ruhe und ohne Hast die erste Hälfte des Fluges zu machen, um die zweite Hälfte dann mit dem Ziel direkt vor Augen sehr konsequent durchziehen zu können. Im Hinblick auf die Zukunft habe ich jedoch nun auch beim Föhnfliegen das Prinzip „Think Big“ besser verstanden.

– Der 04.11.14 war ein Südföhntag von außergewöhnlicher Qualität. Wie nahezu jeder Tag hatte er allerdings seine Nachteile, vor allem den beinahe zu starken Sturm im Westen und den kräftigen Westwindeinfluss im Osten. Die letzte Wetterlage mit ähnlichen Möglichkeiten war die Phase vom 15. und 18. Mai 2013. Im Jahr zuvor waren nur der 28. und 29.04.2012 vergleichbar. Meiner Auffassung nach kann man mit einer solchen Windlage also etwa einmal im Jahr rechnen.

– Die Route durch das Rotorband des Karwendel ist wirklich ein bisschen extrem, aber sie ist gezielt anfliegbar und bietet jederzeit einen sicheren Exit mit Rückenwind nach Norden. Die Turbulenzen sind allerdings sehr schwer berechenbar. Für den Weg von Ost nach West zur fraglichen Tageszeit war es wohl die einzige wirklich sichere Option. Der Flug von Markus Lewandowski, der eine halbe Stunde nach mir mit seinem Ventus cM auf der Inntalsüdseite aus dem Rotorband von der Hohen Salve kam, beweist dies. Markus war dort in 5200 m Höhe, also gut 1500 m höher als ich. Er entschied sich, an die Nordkette zu springen, um im Hangflug an Innsbruck vorbei zu kommen. Dabei verlor er in einem einzigen Zug 4600 m Höhe in etwa 20 Minuten und wurde auf halber Strecke nach Innsbruck zur Außenlandung gezwungen.

– Die Turbulenzen des Fluges waren so stark, dass – wahrscheinlich an besagter Stelle im Karwendel – ein Querruder-Abdichtband von unserem Flügel abgerissen wurde. Während der letzten Flüge habe ich mich intensiv mit dem Erfliegen von sinnvollen Wendepunkten für deklarierte Flüge beschäftigt. Der nächste Focus wird allerdings ganz klar darauf liegen, Orte mit kritischer Turbulenz genauer einzuschätzen und Methoden zu finden, sie horizontal oder optimalerweise vertikal zu vermeiden. Genauer bedeutet dies, zu lernen, das Höhenband nicht nur aus taktischen Gründen zu wählen und zu steuern, sondern auch um Turbulenzen gezielt zu vermeiden.

– Vielen Dank für das große Echo auf den Flug. Ich weiß nicht ob das blöd klingt, aber es hat mir viel bedeutet.

– Ich möchte nicht sagen, dass der Flug am 04.11. tatsächlich das Ende meiner Lernphase im Föhn war. Das Lernen geht mit jedem Flug weiter und findet in immer spezielleren Richtungen statt. Für mich persönlich war der „letzte Dienstag“ trotzdem ein ganz besonderer Meilenstein und ein gewisser Endpunkt, weil es mein erster 1000km-Flug in Europa war und ich nach all dem Mix aus Misserfolgen und Teilerfolgen bei den dreizehn vorausgegangenen Flügen im Südföhn schließlich ein Zeichen dafür setzen konnte, was wirklich passieren kann, wenn man bereit ist, alles zu geben.

Denn die dritte Wahrheit ist, dass nie irgendetwas aufhören wird. Douglas Adams hat einmal gesagt, dass jede Sache, die man verstanden, begriffen und vollkommen verinnerlicht hat, sofort verschwindet und an ihrer Stelle etwas neues, noch bizarreres, unbegreiflicheres entsteht. Und wenn das stimmt, ja – dann freue ich mich ehrlich auf den fünfzehnten Sturm.

 

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Das Eis-Schatten-Spiel

Aus dem Cockpit heraus nach rechts war nur alles schwarz, links weiß. Vorne zitternde Instrumente, und um mich herum spürte ich wieder einmal was es bedeutet, einen Discus 2 in der Hand zu haben – ein bebendes, zischendes, pfeilschnelles Geschoss. Ich war gerade eben – in letzter Minute – im Ahrntal zwischen zwei Regenwänden auf 4300 Meter Höhe geklettert und versuchte, entlang der wohl letzten aktiven Congestuswolke Italiens endlich zurück in den Norden zu flüchten. Wie viel Zeit hatte ich vorher spielend in der ungewohnten Eisroute an der Grenze zwischen dem Val Venosta und Tirol verbracht, verzaubert von ungewöhnlichen Formen und Farben um den Similaun, die Cima Nera und die Texelgruppe. Offensichtlich hatte ich mir dort oben noch den einzig denkbaren Weg von West nach Ost gebahnt, denn die Luft um mich herum kochte längst. Die Schauerzellen zu beiden Seiten des Alpenhauptkammes waren drauf und dran, das Rennen zu gewinnen – nur die höchste Route, der sonst nie fliegbare Weg über das ewige Eis, dämpfte im Herzen der Alpen die labile Luft noch zu brauchbaren Flugbedingungen herab.

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Es war allerhöchste Zeit – ich bemerkte jäh, wie schwer mein Atem ging. Ruhig versuchte ich aus der Sauerstoffkanüle Zug um Zug zu nehmen, bloß nicht aufgeben. Noch nie hatte ich eine so unübersichtliche Wettersituation erlebt, nördlich zwischen Gerlos und Pass Thurn kochende Cumuluswolken, direkt dahinter ein Gewitter, dessen Ausmaße selbst aus meiner riesigen Höhe nicht zu erkennen waren. Die nächsten Schritte nach Osten zu planen, war mehr ein Ratespiel, ein Mensch-Ärgere-Dich-Nicht, ein Poker, ein russisches Roulette. An eine Heimkehr nach Bayern zu denken, schien mir fast absurd, nun da ich einen ersten kurzen Blick auf den Zustand der Alpennordseite erlangen konnte: die Gewitter hatten die Alpen mächtig überrollt und den dritten Hochdrucktag schon mittags fest an sich gerissen, viel zu früh für den Plan, den großen Trick – aber was half es. Ein 680-Kilometer-Dreieck, um den Hattrick voll zu machen, stand auf dem Spiel, und mit diesem Flug ein Meilenstein beim Rennen um die deutsche Meisterschaft im Langstreckenflug. Ja, was half es denn. Der einzige sinnvolle Weg – die Flucht nach vorne, nach Osten, zum zweiten Wendepunkt. Zell am See, St.Johann und Niederöblarn lagen schon fast in Reichweite, frei vom Regen, und ließen keine Wahl, außer es zu versuchen. 

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Jetzt über den Großvenediger, schoss mir zwischen all der Taktik wieder der Spieltrieb durch den Kopf. Direkt über den Gipfel, das wäre ein Spektakel. Ich peilte. Erste winzige Regentropfen drangen mit den starken Turbulenzen durch die Lüftung ins Innere, mitten ins Gesicht. Weiter links, Benjamin, jetzt nicht die Linie verlieren. Ich folgte den schwächer werdenden Steigböen mit immer weicheren Ruderausschlägen hinauf zur Mauer, nordostwärts an den Alpenhauptkamm. Am Ende der Wolke schoss ich hinaus ins gleißende Sonnenlicht und beschleunigte das schwer beladene Flugzeug achtsam auf 170 km/h, Kurs genau auf die Spitze der riesigen Eispyramide am Ende des hohen Tals. Noch nie war Segelfliegen in den Alpen so berauschend gewesen wie in den Pfingsttagen dieses Sommers.

Die zweiundzwanzigste Flugstunde binnen drei Tagen brach an, und es war noch lange nicht vorbei. Ich liebe solche Phasen. Die DMSt ist ein wunderbares Spiel, das uns an Orte führt, die wir sonst vielleicht nur durch Zufall einmal sehen würden, das uns dazu treibt, unsere Grenzen zu verschieben, Fehlschläge und Abbrüche in Kauf zu nehmen und das Beste unseres Könnens über die Planung und Umsetzung von Langstrecken aus uns heraus zu holen, die Komfortzone zu verlassen. Wer binnen eines Sommers die drei weitesten Streckenflüge mit vorher festgelegten Eckpunkten nachweisen kann, gewinnt. Ich mache gern mit, und an den ersten beiden Pfingsttagen waren die Ostalpen wieder mein Spielfeld. Ich hatte Wendepunkte in der Steiermark am östlichsten Ende der Alpen, in den italienischen Dolomiten, im Oberengadin und in Kärnten gesetzt und erreicht, zwei Flüge, über 1500 Kilometer. So viel Alpen in zwei Tagen hatte ich selten sehen dürfen.

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Das Kreuz auf dem Gipfel des Großvenediger stand halb in Schneemassen begraben, so dass nur eine Hälfte des Querbalkens aus den weißen Wänden ragte. Kein Mensch befand sich auf dem Gipfel, auch nicht auf einem der steil abfallenden Grate der Pyramide. Metergenau folgte ich mit hoher Geschwindigkeit der Kontur des eiskalten Riesen und ließ die Eindrücke an mir vorbeiziehen. Dann überflog ich im schrägen Winkel den Grat. Die hell blitzenden Umrisse huschten in den Augenwinkel und wurden schlagartig vom hellen Tal des Pinzgau aufgefüllt, an dessen Flanken sich die Wolkentürme unter dem Blau eines heißen Junitages aneinander reihten. Zum wiederholten Mal heute begegnete mir der Gedanke, vielleicht noch nie so etwas Eindrucksvolles gesehen zu haben.

Mit hoher Fahrt stieß ich auf die andere Seite des Alpenhauptkamms in den Norden hinab unter die stark abfallenden Wolken des südlichen Pinzgau. Auch wenn die ersten Quellungen mich wieder mit 1-2 m/s empfingen und ich sofort sehen konnte, dass ich nicht das einzige Flugzeug auf der klaren Route gen Osten war, fühlte ich meine Durchhaltemoral und damit meinen Optimismus langsam der Erschöpfung weichen. Über die Frage, was mich aus dem leichtfüßigen Fliegen auf der westlichen Hälfte des Dreiecks heraus so abzubremsen schien, kam ich zu dem Schluss, dass es jetzt einzig und allein noch darauf ankam, nicht den richtigen Zeitpunkt zur Umkehr zu verpassen, und die Zeichen zu deuten. Ich flog nun mit der überzeugten Erwartung, dass an irgendeinem Punkt die Natur auch drüben an der östlichen Wende einmal wieder deutlich zeigen wird, wer hier, tief in den Bergen, der Stärkere ist.

Alpine Langstrecke zu fliegen bedeutet, ständig über irgendwelche hohen Gipfel zu springen, entlegene Regionen zu überfliegen und – wenn es sein muss – stundenlang tief zwischen den Felsen zu verbringen. Es gilt, verschiedenste Klimazonen im Flug zu verbinden und von der heißen, feuchten Luft der Po-Ebene bis zu den ewig vereisten Gipfeln der Zentralkette hinauf die Übersicht nicht zu verlieren. Auf seinen Wegen besucht man regelmäßig die beeindruckenden Gipfel von Bernina, Ortler, Olperer und Großglockner – Orte, die zu Fuß einer tagelangen Expedition bedürften, macht die einzigartige Thermik der Alpen leichtfüßig und schnell erreichbar. Keine zwei Tage im Gebirge sind ähnlich, zu viele Faktoren spielen im Brennpunkt des alpinen Wettergeschehens ihre Rolle. Jeden Tag auf andere Weise wird Energie aufgenommen und freigesetzt, werden Wolken und dunkelblauer Himmel der Höhe sich abwechseln, wird Luft in großen Massen durch die Täler transportiert. Das Gelände dominiert das Wetter und Klima so brachial, dass stets große Kräfte gegeneinander wirken. Und manchmal, als Nebeneffekt, darf der Segelflieger in diesem großen Spiel hautnah dabei sein.

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Ich rief nach Mathias, der wohl schon irgendwo östlich sein musste. „Chrchrchr…Gasteiner Tal…. Chrchrchr… Kein Problem….Ccchrrrr… Osten… Chrrr… Problem.“, schallte es durch die Lautsprecher zurück.

Links von mir lag tief unten Zell am See, rechts oben der Großglocknergipfel. Im Abstand von gut zehn Kilometern ufern hier breite Querrippen vom Hauptkamm herab nach Norden. Mit jedem der kleinen Zwischentäler, die ich überflog, schwankte mein Gemütszustand zwischen Hoffnung und Missmut. Ich wusste, dass ich es noch schaffen konnte – es war gerade einmal vier Uhr, ich lag fast eine halbe Stunde vor dem Zeitplan. Doch die Zündschnur brannte, und immer wenn ich eine neue Querrippe erklomm, blieb bis zum letzten Moment nichts als farbloses Nichtwissen über alles, was mich dahinter erwarten würde. Dunkle, sehr große Cumuluswolken mit zunehmend unterschiedlichen Basishöhen und pechschwarzen Unterkanten reihten sich aneinander, und immer wenn ich zwischen ihnen ins gleißende Sonnenlicht tauchte, konnte ich in allen nördlichen Richtungen zahlreiche überentwickelte Zellen erkennen. Das starke Gewitter über dem nördlichen Salzachtal lag schon weit zurück. Es war unmöglich zu erkennen, welche Gebiete bereits in den Bereich seines Schattens gefallen waren. Auch der blaue Himmel zwischen den Quellungen vor mir, im Osten, wurde düsterer. Ich hatte das Gefühl, dass die Sicht mit jedem Kilometer, den ich flog, ein Stück schlechter wurde, und die hohen Schichtwolken, die immer mehr dazu neigten, die Sonne zu verdunkeln, kamen zweifelsohne von einer weiteren Gewitterzelle irgendwo im fernen (oder nahen?) Hintergrund.

Aber es ging weiter, Schritt für Schritt, nur noch 45 Kilometer zum Wendepunkt südöstlich des Obertauernpasses. Rein intuitiv folgte ich nach der Glocknerpassage einer der Rippen wieder zurück in den Süden hinauf, um einen besseren Überblick nach vorn zu bekommen. In weiten S-Kurven suchte ich den Sattel nach Steigen ab und tatsächlich hob sich der rechte Flügel. Das zupackende Querruder des Discus legte die Maschine in einen flachen Kreis und ich musste auf das Variometer schauen, um sicher zu gehen, dass ich wirklich mit fast 2 m/s zu steigen begonnen hatte. Die Thermik fühlte sich ungewohnt weich und zahm an, so als wäre es schon Abend und die Energie des Bodens fast aufgebraucht. Spätestens jetzt waren die vielen Schatten des Gewittertages auch in den Luftströmungen zu spüren. Ich entschied, hier unter allen Umständen noch einmal so hoch wie möglich zu steigen. Der Aufwind trug zaghaft, aber verlässlich. Während ich vor der Wolke nach Südosten davon gleiten wollte, stieg die Luft immer noch und ich begann, entlang der Wolkenstufe weiter zu klettern, bis mich die Schatten erneut einzuhüllen drohten. Zweimal noch konnte ich dieses Spiel wiederholen und so unverhofft auf 4100 m hinauf gelangen.

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Als ich nach der relativ langen Steigzeit mein Wolkengebilde nach Osten verließ, schien ich plötzlich wie gegen eine Wand zu stoßen. Wieder einmal hatte sich das Wetter schlagartig gewandelt, und das nicht zum Guten. Noch nie hatte ich mich in einer so großen Höhe so machtlos gefühlt. Es waren von hier nur 30 Kilometer bis zur Wende. Auf Kurs fielen die Wolken wieder steil herab und voraus war nur noch das schattige, dunkle Relief der niederen Tauern zu sehen, welches zum Horizont hin von den grauen Fangarmen des Wettergeschehens verschluckt wurde. Ich glitt, sank und ließ mich ziehen. Erste feine Regentropfen trafen die Haube und begannen an der Flügelvorderkante festzufrieren, bevor sie der Fahrtwind von der glatten Oberfläche fortriss. Manchmal konnte ich über mir noch die Sonne erkennen, was mich ermutigte, weitere dunkle Wolkenkonturen voraus nach der sanften, stetigen Art von Lift abzusuchen, die ich vorhin über den Quergraten angetroffen hatte. Doch je mehr ich auf der Suche zu beiden Seiten pendelte, desto mehr Sinken traf ich an – erst zwei, dann drei Meter. Schließlich – kurz vor der Ortschaft Obertauern – war voraus anstatt weiterer Quellungen nichts mehr als der homogene, graue Hintergrund einer im hohen Gelände aufliegenden Regenwolke zu erkennen. Ich hatte tausend Meter Höhe seit dem letzten Steigflug verloren. Es war soweit. Dies war das Ende. Weiter nach Osten würde heute kein Segler mehr gelangen. Bis hierher zu fliegen, hatte mir alles abverlangt, was ich nach drei vollen Tagen im Gebirge noch an Nerven und Kraft übrig hatte, und der Wendepunkt war unerreichbar. Ich wandte das Flugzeug talwärts nach Norden.

Es wird einen anderen Tag geben, hatte Klaus Ohlmann einmal über einen solchen Moment geschrieben, auch wenn man sich in diesem Moment machtlos und geschlagen vorkommt. Einen anderen Tag gibt es immer.

Dieser Flug hatte mich an eine meiner Grenzen gebracht, die nervliche Anspannung befiel mich wie eine Lähmung. So viel geflogen, so viel geplant, so viel gesehen, so viel riskiert – und dann zwischen irgendwelchen Regenwänden am Alpenhauptkamm gedrängt. Ich war enttäuscht, genervt, angestrengt und erschöpft. Wie ich heute Abend nach Hause kommen sollte, wusste ich noch nicht.

Mathias meldete sich aus der grauen Masse östlich von mir. Auch er hatte seinen Flug an diesem Punkt abgebrochen und begann aufgrund meiner negativen Stimmlage sehr ruhig, mir präzise eine Stelle nordwestlich des Tauerntunneleingangs zu beschreiben, an der er auf dem Hinflug noch Steigen gefunden hatte. Dankbar folgte ich dem Rat und wenige Minuten später trafen wir uns in dem zwischen den Schatten beständigen, wahrscheinlich letzten Aufwind der gesamten Niederen Tauern an diesem Tag.

Aus 3600 m Höhe begannen wir, gemeinsam den Rückflug zu planen. Aus unserem etwas nördlicheren Winkel war seitlich zu erkennen, dass die Cumuluslinie über den Hohen Tauern nun endgültig mangels Sonneneinstrahlung in sich zusammengefallen war und den Rückweg südlich Zell am See – unsere gewohnte Route für den Heimweg aus dem Osten – versperrte. Also überquerten wir die Ortschaft Bruck nach Nordwesten und begannen, einen langen Congestus südlich der Schmittenhöhe nach Thermik abzusuchen. Noch bevor ich sinnvolles Steigen melden konnte, hatte Mathias über einigen Sonnenflecken im Talgrund schon kräftige Ausschläge geortet und nach wenigen Kreisen stiegen wir wieder mit konstanten 1-2 m/s. In jedem Kreis ließ ich die Landschaft auf Kurs Nordwest an mir vorbeiziehen und sondierte die weiteren Möglichkeiten. Es gab keine.

Mit jedem Kreis schien die Wolkenbasis bedrohlicher und schwärzer auf uns zu drücken, und ich begann zu bangen, wie hoch uns die mächtige Wolke noch steigen lassen würde. Als eine Flügelspitze in die Schwaden eintauchte, begann ich zu beschleunigen. Höhe: 3500 Meter. Distanz nach Hause (600 Meter hoch): 125 Kilometer. Macht 1:42 erforderlich. Wetter auf Kurs: Grau. Mein Rechner pendelte zwischen minus vierzig und plus neun Metern Ankunftshöhe. Bei Mc=0. Ohne Mückenbeschlag. Ohne Windnachteil. Es war einfach noch nicht genug.

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Mathias begann voraus zu fliegen. Wir nahmen Kurs auf ein paar graue Flusen östlich der Hohen Salve, aber als er vorne keine Regung der Luft meldete, drehte ich schon vorher ab. Arcus gegen Discus – wie unfair.

Zwanzig Minuten später. Mit dem leichten Rückenwind hatte ich knapp hundert Meter Reservehöhe aufgebaut und trat über Kufstein in nurmehr 2200 m Höhe in die Randberge ein und mir wurde klar, dass ich nun wieder jeden Hektar und jeden Gipfel auswendig konnte. Ich wusste immer noch nicht wie, aber ich beschloss, nun zumindest wirklich bis nach Hause zu kommen. Ich stemmte die Beine in die Pedale und streckte mich kurz. Dann begann ich aus der Lethargie der letzten Stunde auszubrechen und sondierte die Umgebung. Das große Gewittergebiet in der Region des Pass Thurn hatte sich nach Westen bis Innsbruck ausgeweitet und spannte nun einen hohen Wolkenschirm über sehr weite Teile Tirols und der bayerischen Alpen. Mathias war inzwischen recht weit voraus und etwas höher, und ich ab dem Sonnwendjoch wieder auf mich allein gestellt. Auch wenn der Himmel über uns vollkommen grau war und kaum Sonne an den Boden gelangte, ging ich ganz nah an den Nordostgrat, um wenigstens wieder ein paar Turbulenzen zu spüren zu bekommen. Die lange Zeit in vollkommen unbewegter Luft machte mich komplett verrückt. Metergenau folgte ich der düsteren Kulisse der felsigen Latschenwand. Plötzlich setzte leichtes Fallen ein, das Flugzeug begann sich zu schütteln, und am leeseitigen Ende der Rippe stolperte ich unversehens noch einmal in schwache Thermik, die der tiefe Fichtenwald noch aus sonnigerer Tageszeit gespeichert hatte. Ein enger, schwacher, winziger Aufwind. Ich öffnete die Wassertanks, zählte bis zwanzig und ließ den übrigen Ballast für den Endanflug bei mir. In sieben Minuten gewann ich 80 Meter Höhe, bevor der Aufwind mich wieder verließ.

Inzwischen war ich nah genug am Lenggrieser Tal, um über der Talmitte schwache, graue Quellungen erkennen zu können. Ob dort vorne mehr Sonne war, sah ich nicht, aber ich änderte meinen Kurs in der Hoffnung, dass sich die tragende Linie entlang der Isar aufgebaut hatte, so wie es die Wolken signalisierten. Mit jedem Kilometer, den ich weiter nach Westen kam, fühlte sich die Luft wieder lebendiger und energiereicher an. Am Hirschberg, unter dessen Gipfel ich nördlich vorbei schlich, sprang das Variometer schließlich auf 1 m/s, und fast ohne Probleme stieg ich in flachen Kreisen von 1650 auf 1900 Meter zurück. Das genügte: Endanflughöhe.

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Inzwischen war es um 18 Uhr – der zähe Rückweg hatte den restlichen Nachmittag fast komplett in Anspruch genommen. Und ich war wieder da. Hatte ich mir vor zwei Stunden noch gewünscht, dieser Flug möge endlich ein Ende nehmen, so hatte ich nun überhaupt keine Lust zu landen. Zu schön, zu intensiv hatten sich diese 26 Flugstunden in drei Tagen angefühlt, zu gut um nun vorbei zu sein. Über Bad Tölz schwenkte ich entlang des Flusses nach Norden und begann, in der Abendthermik über der Isar meine Höhe zu halten. Als noch einmal schwaches Steigen einsetzte, drehte ich um den linken Flügel und begann ein letztes Mal Höhe zu gewinnen, um die abklingende Hochdruckperiode über den Alpen bis zur letzten Minute auszukosten.

Es wird einen anderen Tag geben, um den dritten Flug in die Wertung zu setzen, sagte ich mir, einen neuen Tag, um die gesamten Ostalpen zu durchstreifen und all den Wolken über den Felsen nachzujagen. Diesen Tag sollte es bald wieder geben, mehrmals vielleicht noch in diesem Sommer. Im Westen spiegelte sich das fahle Sonnenlicht durch die Wolkenschichten in den großen Seen, und daneben ragte die Zugspitze aus dem Dunst des frühen Abends. Wenn ich so daran dachte, konnte ich es eigentlich kaum erwarten.

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Elf Stunden

Eines Nachmittags im September standen wir zu fünft auf dem steilen Felsweg vor der Kapelle von Moustiers-Sainte-Marie und blickten tief auf das malerische Plateau de Valensole herab. Der mit den Wochen allmählich verklingende Duft von Erde und Lavendel lag in der Luft, und eine erholsame Ruhe bedeckte das vertrocknete, warme Land, das ich so sehr zu lieben gelernt hatte. Ich lehnte mich weit über die Brüstung, um den Wind zu spüren, der durch die Felsen seinen Weg nach oben suchte, und atmete tief ein: Spätsommer in der Provence.

Der Tag vor einem Tausend-Kilometer-Streckenflugversuch ist für mich jedes Mal eine emotionale Herausforderung. Wenn alles so kommt wie erwartet, werde ich am folgenden Tag mehr durchleben, mehr Gefühle verarbeiten und mehr Dinge sehen dürfen als manche Menschen in einem ganzen Jahr. Eine solche Aussicht fordert gute Rüstung. Die Frage nach dem Ausgang des Unterfangens liegt den ganzen Tag wie ein heller Schatten über meinen Gedanken, aber auch wenn jede Faser meines Körpers nach dem vollkommensten aller Flüge, nach der Erfüllung des Plans strebt, ist mir die Antwort nicht einmal wichtig. Vor allem hier in Frankreich geht es mir darum, Zeit in den Bergen zu verbringen und den geisterhaften Nordwind, der die Provence im Frühling und Herbst immer wieder heimsucht, so lange wie möglich zu erleben.

Auf meine Begleiter wirkte ich bisweilen geistesabwesend. „Wum“ Behrendt, dessen Duo Discus ich in diesen Wochen als Coach betreuen durfte, versetzte mir hin und wieder einen kleinen Stups, um mich aus meinen Gedanken wieder in die Wirklichkeit zurück zu holen. Und „Schmörgel“ Pfennig, den ich mit meinem Nordwind-Wahnsinn angesteckt hatte, brummte nur. Auch er saß in Gedanken bereits in seinem Ventus. So hingen wir hoch über den Dächern des malerischen kleinen Dorfes unseren Gedanken nach – niemand sagte ein Wort. Bevor wir uns zum Abstieg wandten, betrat ich die Kapelle und entzündete drei Kerzen – eine davon für alles, was auch immer morgen geschehen sollte.

2013-09-16 15.48.06

Stunden später legte sich die Nacht über den am Saisonende so stillen Flugplatz Puimoisson. Oben am Mont Ventoux waren die Wolkenfahnen in der Dämmerung eindeutig geworden: Man konnte den Sturm schon sehen, und noch vor Tagesanbruch würde er hier sein. Ich wusste, dass ich heute Nacht keinen Wecker zu stellen brauchte.

Schon die erste Böe, die über meine Zeltplanen fauchte, ließ mich nachts aufschrecken, als ob ich sogar im Schlaf auf das Signal gewartet hätte. Ich begann in der Dunkelheit, aufgeregt nach meinen Sachen zu tasten und mich anzuziehen: an den Beinen mit drei Schichten Kleidung, fünf am Oberkörper, stolperte ich schlaftrunken hinaus in die eiskalte, sternenklare Herbstnacht, gerade rechtzeitig, um den Mistraleinbruch beobachten zu können. Immer kräftigere Stöße und Wirbel peitschten nun über die Felder, die kahle Baumreihe schüttelte und bog sich, und schon wenige Meter von dem schützenden Wäldchen entfernt konnte ich mich mit ausgebreiteten Armen in den Wind lehnen. Die kalten Luftmassen waren schlagartig und mit einer Heftigkeit eingetroffen, wie ich sie bisher noch nie erlebt hatte. Ich blickte auf die Uhr: Noch zwei Stunden bis Sonnenaufgang.

Nachdem ich das Flugzeug vorbereitet hatte, stapfte ich, gegen den Wind vornüber gebeugt, hinauf zu den Hütten. Eigentlich hatte ich aus verschiedenen Gründen nicht geplant, jemanden auf diesen Flug mitzunehmen, doch das Interesse an meinem verdächtig leeren Rücksitz war am Vorabend einfach zu groß gewesen, um Nein zu sagen. „Lupo“ Schöbel, der bis dahin noch nie eine richtige Welle erlebt hatte, musste versprechen und beteuern, den ganzen Tag still zu halten und Kälte, Sturm und Spannung all die Stunden über sich ergehen zu lassen. Dann durfte er mitkommen. Lupo hatte sich über Nacht gut vorbereitet und erholt, gab mir Frühstück und kümmerte sich sorgfältig um alles, für das ich zu dieser Stunde keine Nerven hatte. Wäre ich an seiner Stelle gewesen, ich hätte sicher keine solche Ruhe an den Tag gelegt.

Bei Sonnenaufgang standen Walther Regelsberger, Schmörgel, Lupo und ich startbereit am Ende der Mistralpiste 34, auf der wirklich nur im äußersten Fall gestartet wird. Wum hatte sich als Helfer aus dem Bett geschält. Auch der Schlepppilot Sylvain rollte kurze Zeit später an, trotz hochschwangerer Ehefrau und früher Uhrzeit. Um die Windbedingungen beim Start auf der extrem kurzen Piste einschätzen zu können, ließen wir die leichteren Einsitzer zuerst aufsteigen, dann zog ich die Kabinenhaube über mir zu und rückte den Fallschirm zurecht, den ich nun für elf Stunden tragen sollte. Schon klinkte Wum das Seil ein. Wenige Sekunden später zog Sylvain uns mit der starken Morane über die trockene Graspiste in den Sturm hinaus.

Erste Stunde – 08:00 bis 09:00 

Der Abflug nach Norden über die Baumkanten gelingt trotz der heftigen Turbulenzen problemlos. Wenige Minuten später fliegen wir in 1800 m Höhe am Rande des Assetals, wo wir die erste Welle des Tages, die tertiäre Schwingung der Montagne de Lure erwarten. Es wäre möglich, an dieser Stelle viel niedriger auszuklinken, aber ich möchte nicht mit schwachem Aufwind wertvolle Tageszeit verlieren. Deshalb werfe ich in ungewöhnlich großer Höhe das Schleppseil ab, rufe „Merci, Sylvain“ im Funk und lasse für eine knappe Minute zum Test den Turbo laufen. Dann wird es still um uns herum und ich beginne, mir einen Überblick über die Aufwindgegebenheiten zu verschaffen. Über der Südkante des Assetals durchfliegen wir seitlich immer wieder schwaches Steigen, doch kein wirklich zusammenhängendes Feld. Der stärkere Teil der Schwingung scheint weiter östlich bei Moustiers zu stehen, wo Walther gerade Höhe gewinnt. Ich will verlagern, doch kaum als ich beginne, dem Tal entlang nach Osten zu folgen, bleibt mein Blick in der rosigen, glasklaren Morgenstimmung an etwas hängen.

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Einen Moment lang halte ich inne und betrachte andächtig das nördliche Plateau, auf dem die flache Sonne ein Bild aus langen, dunklen Schatten zwischen den abgeernteten Feldern und den rauhen Geländefurchen zieht. Direkt über dieses Farbenspiel hinweg peitschen indes die Wolkenfetzen, und nach wenigen Augenblicken beginnt sich aus dem Nichts heraus eine Rotorwolke zu formen, die eindeutiger nicht hätte sein können. Sie ist etwas höher als wir und besitzt eine scharf geschnittene, dunkle Kontur, sie rollt und dreht, wird immer wieder nach Süden getrieben, um sich kurz darauf im Luv neu zu formen. Ich überlege: Dies muss die sekundäre Welle des Lure sein, und sie steht, genau wie offensichtlich unsere hiesige, viel weiter östlich als gewohnt, und nicht wie sonst über den Hinkelsteinen von Les Mées. Ich sehe das als Chance, denn dadurch ist der Gleitflug gegen den Wind erträglich kurz. Dann peile ich über das Instrumentenbrett und entscheide mich, dank der großen Ausklinkhöhe direkt in den Rotor vorzupreschen.

Erst jetzt realisieren wir, wie stark der Wind eigentlich ist. Ich muss die Fahrt bis über 180 km/h pressen, bevor wir beginnen, überhaupt Strecke zurückzulegen. Mühsam bewegen wir uns gegen den Sturm nach vorne. Genügt die Höhe wirklich? Leeseits der Wolke setzt starkes Sinken ein – der absteigende Ast der Rotorwalze. Ich befürchte einige Sekunden lang, zu ungeduldig gewesen zu sein und wünsche mir kurz, doch zuerst den Umweg über Moustiers genommen zu haben. Doch es ist zu spät für solche Zweifel. Wir sind direkt unter der massiven, dunklen Wolke angekommen, und zum starken Sinken mischen sich extreme Turbulenzen. Es sind kaum mehr 600 Meter Höhe über dem Plateau. Auch wenn der Gleitflug nach vorne ins Tal längst frei ist, wird die Perspektive ungemütlich. Immer wieder treffen harte Schläge das Flugzeug von allen Seiten, und im Schnitt sinken wir weiter. Einmal drehe ich hoffnungsvoll zur Seite ab, doch es hilft alles nichts: Wir müssen weiter gegen den Nordwind. Bald liegt die Wolke einen, zwei Kilometer hinter uns. Noch immer sind die Böen im Schnitt negativ, doch auf einmal schnellt erst die Fahrt, dann das Vario nach oben. Ich atme auf und ziehe den Knüppel heftig nach hinten, endlich, endlich. Nach zwei, drei Schleifen bildet sich direkt neben uns die neue Wolke und wir steigen mit über 6 m/s an den Flusen entlang nach oben. In 2500 m Höhe wird der Aufwind immer ruhiger, und in kürzester Zeit ist die Luftraumgrenze von FL115 erreicht.

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Direkt über Saint Auban, wiederum östlicher als gewohnt, steht die nächste Rotorwolke. Langsam Vertrauen in das heftige Windfeld fassend, presse ich den Duo weiter gegen den Sturm. Als wir das Durancetal erreichen, durchfliege ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Sinken von mehr als 10 m/s. Nach diesen ersten Erfahrungen des Tages wird mir klar, dass wir es heute mit Kräften zu tun haben, die ich in einer solchen Größenordnung noch nie zuvor erlebt habe.

Die Primärwelle des Lure schießt uns ohne weitere Umstände mit knapp 8 m/s zurück an die Luftraumgrenze. Im Steigflug muss ich mindestens 110 km/h fliegen, um nicht rückwärts aus dem Energieband gepresst zu werden. Wie wir gegen diesen Wind in absehbarer Zeit in den Norden gelangen sollen, ist mir schleierhaft, doch auch über dem Jabron, Chabre und der Ceüse können wir inzwischen Rotorwolken erkennen. Mir fällt nichts besseres ein, als mit hoher Fahrt über den Lure zu fliegen, um irgendwie vor die nächsten Wolken zu kommen.

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Zweite Stunde – 09:00 bis 10:00

Die Höhe verlieren wir so schlagartig, wie wir sie soeben noch gewonnen haben. Zehn Kilometer weiter vorne sind wir tausend Meter tiefer. Ich beginne zu zweifeln, wie viel Sinn unser Unterfangen heute haben kann, und fühle mich machtlos und unterlegen. Vorsichtig, beinahe respektvoll folge ich der Westflanke des Durancetals. Auf der Windseite jeder Wolkenbank stelle ich mich seitwärts in die Strömung, um ein paar Höhenmeter gut zu machen, und kann so jeweils für ein paar Kilometer meine Höhe halten. Meine einzige Hoffnung ist es, dass jenseits von Serres bald die Beschränkungen des unteren Luftraumes aufgehoben werden und der Weg ins „obere Stockwerk“, also auf knapp 6000 m Höhe frei wird. Sobald wir die volle Arbeitshöhe der Wellen ausnutzen können, haben wir vielleicht noch eine Chance darauf, Strecke zu machen. Vielleicht ist einfach ein größerer Aktionsradius und mehr Bewegungsfreiheit der Schlüssel.

In einer ruhigen Minute mache ich mir ein Bild über den bisherigen Streckenflug: 90 Minuten sind vergangen, nur 70 Kilometer zurückgelegt. Der Zeitplan für die Tausender-Strecke ist so gut wie dahin, doch mein Drang nach vorne steigert sich gerade deshalb ins Unermessliche. Am Pic de Bure, sage ich mir, am Pic wird alles anders sein.

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Die Wolkenoptik vom Chabre bis zur Ceüse ist völlig chaotisch, und so fühlt sich auch die Luftmasse an. Es sind Aufwinde da, doch die Turbulenzen lassen den Gedanken an geordnete Steiggebiete fast lächerlich erscheinen. Die Steigflüge auf dem Weg zum Pic de Bure scheinen immer mehr Zeit zu kosten und ich muss mich zwingen, die nötige Geduld zu bewahren.

Inzwischen flutet das helle Licht des Vormittags die Seealpen und nimmt dem Schauspiel der kochenden Wolken im Mistral-Sturm einen Teil ihrer Dramatik. Lupo versorgt mich von hinten mit Müsliriegeln und ruhigen Worten, während ich über der Crete de Selles endlich daran gehe, den Vorstoß auf den Pic de Bure, den großen Wellenberg der Provence, vorzubereiten. Das Steigen ist nur noch knapp 2 m/s stark, der Wind poltert indes unverändert. Als wir die Ceüse mit großer Mühe in knapp 3000 m Höhe überqueren, treffen wir auf Walther und sprechen uns ab, um den großen Steigflug gemeinsam anzugehen. Ich fliege mit über 200 km/h voraus, doch als wir näher kommen, werde ich erneut stutzig: Im gesamten Leebereich des Pic kann ich nicht das geringste Wolkenzeichen erkennen. Doch kaum bin ich über dem Talkessel angelangt, schießt das Variometer in den unteren Anschlag, dann schüttelt sich das schwere Flugzeug ein, zwei, dreimal. Nach einigen Sekunden des stillen Erwartens fühle ich den dezenten Druck im Sitz, nehme die Geschwindigkeit heraus und weiß, dass wir nun erst einmal wieder ein wenig Zeit haben.

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Dritte Stunde – 10:00 bis 11:00

In der laminaren Luftströmung eines Wellenaufwindes zu fliegen, bedeutet für mich etwas, das ich unweigerlich mit Schwerelosigkeit verbinde. Sobald ich mich im Zentrum des Aufwindes gegen den Wind stelle, werde ich so ruhig wie seit dem Start nicht mehr. Selbst hier am berühmten Pic de Bure steigen wir nur mit weniger als 3 m/s hinauf, doch das lässt uns umso mehr Zeit, um die Eindrücke zu sammeln. In 3500 m flauen die Turbulenzen komplett ab, während der Lac de Serre-Poncon und das Tal der Buech unmerlich langsam unter uns versinken. Erstmals am heutigen Tag kehrt wieder völlige Stille ins Cockpit ein. Minutenlang sehen wir schweigend hinab, der Sauerstoff strömt beruhigend durch die Schläuche, und als wir zum ersten Mal die 5000 Meter durchsteigen, wird hinter den sagenhaft schwarzen Wänden der Ecrins der Blick auf den Mont Blanc frei, der am Horizont wie ein riesiger Eisberg aus dem brodelnden Meer von Wolken hervor ragt.

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Ich beginne, die letzten zwei Stunden nochmals zu überdenken: Was für ein spektakulärer Anfang eines Mistralfluges. Der Blick auf die Uhr macht die Idee, heute Tausend Kilometer zu fliegen, mit großer Klarheit zunichte, und das sogar trotz der gegenteiligen Erfahrungen, die ich aus Australien mitgebracht habe. Allerdings kann ich den Blick kaum von dem Panorama lösen, das sich nun im Nordosten vor uns aufbaut, sehe tief unten in der Champsaur die windzerfetzen Wolken über die Kämme treiben, und beginne tief zu atmen. Dieser Tag ist ein Geschenk, und dieser Moment ist der Schlüssel: In fast 6000 Metern Höhe beginne ich, das Flugzeug sanft gegen den Wind zu beschleunigen. Wir werden sehen, wie weit wir heute noch nach Norden kommen, und jede Sekunde wird es wert sein.

Die nun anstehende Überquerung der Ecrins, der südlichsten Viertausender der Alpen, ist für mich einer der interssantesten Teile eines jeden Mistral-Fluges. Der neu gewonnene Bodenabstand macht Mut und ich gehe mit hoher Fahrt an den Rand des Valgaudemar, um den hohen Grat entlang bis zum Pelvoux, ins Herz der Ecrins zu gleiten. Um von hier aus weiter über Briancon zu kommen, muss man wieder möglichst hoch steigen, doch die Welle inmitten dieses Labyrinths aus Felsen und Eis ist nicht leicht zu finden. Heute stolpern wir kurz nach der Querung des Hauptgrates mehr durch Zufall hinein, wieder an einer anderen Stelle als bei meinem letzten Flug im März.

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Den Weg nach Bardoneccia über die Rote Wand finde ich fast wie von selbst, doch als wir erneut in knapp 6000 m über der Stadt am Talschluss des Val Susa im Wind stehen, drängt es mich, von der Route zum Gran Paradiso abzuweichen, die ich im März an diesem trockenen, eisigen Mistraltag für mich gefunden habe. Heute will ich einem Hinweis von Helmar Gai folgen, der die Maurienne bei starken Wellenlagen als echte Alternative für den Übergang nach Aosta vorschlug. So trenne ich mich vorzeitig vom Susatal und springe in großer Höhe über den Col de Frejus, direkt nach Norden.

Vierte Stunde – 11:00 bis 12:00

Unsicher tapse ich über die beeindruckende, schwarze Kerbe des Modanetals nach Norden, auf der Suche nach der unbekannten Leewelle des Dent Parracheé, welche die Logik (und Helmar) an dieser Stelle vorschlägt. Tatsächlich kann ich mich in einigem Abstand zur Südwand das Tal hinauf nach Osten hangeln. Auch wenn Rotorwolken heute keine Seltenheit sind, fehlt hier – wie zuvor am Pic de Bure – jegliches Wolkenzeichen. So brauche ich eine Weile, bis ich weit im Osten des Parracheé wieder sehr gutes Steigen finde. Während wir hoch über dem Flugplatz Sollieres den Panoramablick auf die Schweizer Alpen im Norden und den tiefgefrorenen Lac du Mont Cenis genießen, fällt mir während einer Kurve in 5200 m Höhe ein Schatten im Augenwinkel auf: Tatsächlich hat sich unter uns eine ansehnliche Hebungswolke gebildet – gut zu wissen, falls wir die Stelle auf dem Rückflug noch einmal brauchen.

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Wenige Kurven später verfliegt das Steigen. Mit der Rückendeckung der neu entstandenen Rotorwolke bin ich auch ohne die Maximalhöhe ganz ruhig, als ich wie automatisch Kurs auf den Col de Carro nehme, der das Modanetal nach Nordosten abschließt und letztendlich das Tor zum Tal von Aosta bildet. Über die Systeme dort weiß ich nach unzähligen Stunden der Vorbereitung genug, dass ich mich dort im unmittelbaren Angesicht von Matterhorn und Monte Rosa wohl zurechtfinden werde, doch der Weg dorthin ist – offenbar wie die Ecrins-Querung – ein ungewisses Stück. Es kommt auf den Versuch an.

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Ich bekomme immer noch Monate später eine Gänsehaut, wenn ich daran denke, was als nächstes kommt. Ich presse angesichts der heftigen Gegenwindkomponente das Tal hinauf nach Nordosten, entlang einer gedachten Linie, die ich aus dem höchsten vorgelagerten Relief abgeschätzt und dann eine gedachte Wellenlänge parallel verschoben habe – nach mehreren hundert Stunden in der Welle inzwischen mein Patentrezept im unbekannten Gelände. Doch kaum als der Fahrtmesser die 180 km/h überschreitet, setzt Sinken ein. Erst Sinken, dann Durchsacken, dann Fallen. Ich reagiere sofort und pendle gegen die Windkomponente hinaus auf eine westlichere Linie, doch der Höhenmesser wandert mit unaufhaltsamer Stetigkeit abwärts. Alle Instrumente hängen wie festgenagelt im unteren Anschlag, und zum Durchsacken mischen sich erste Turbulenzen. Wieder versuche ich es mit einer Richtungsänderung, beginne vom Spiel abzusehen und mit dem Wind zu kämpfen. Immer wieder muss ich mir selbst aktiv befehlen, die Muskulatur meines Körpers nicht zu verkrampfen. Nachdem ich unter extremem Höhenverlust die Linen mehrere Kilometer zu beiden Seiten meiner gedachten Route abgependelt habe, sinkt der Höhenmesser unverändert: Ich habe durch meinen Vorstoß in einem Zug 1500 Meter in 5 Minuten verspielt. In 3800 m Höhe weiß ich, dass es keinen Sinn mehr hat, und reiße den Duo scharf herum. In der Kurve kann es mir nicht schnell genug gehen, um zu prüfen, wie die Rotorwolke über Sollieres jetzt aussieht.

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Als ich vorderseitig der Wolke kleine Fetzen heraufwirbeln sehe, weiß ich, dass wir nur zehn Kilometer von unserer Rettung entfernt sind, doch dass es die längsten zehn Kilometer meiner Karriere sein werden. Auch auf dem Rückflug versuche ich wieder eine verlagerte Linie abzusuchen, ohne dabei zu weit vom Kurs abzuweichen und ohne den leichten Rückendwindvorteil, der mir jetzt noch bleibt, aufzugeben. Noch immer hängt das Variometer am unteren Rand der Skala. An die windige Landung unten im Hexenkessel von Sollieres möchte ich gar nicht denken, auch wenn ich theoretisch wohl weiß, wie es geht. Noch fünf Kilometer zur Wolke. Um nicht hinter die Kondensierungen, die sich ständig neu bilden, gepresst zu werden, steuere ich mit über 200 km/h und großem Vorhaltewinkel an die Luvkante der Fetzen. Endlich ändert sich das Schema der Turbulenzen, endlich beginnen die Instrumente wieder größere Sprünge zu machen. Nach zehn Minuten im nahezu „freien Fall“ erreichen wir den Rotor. Die Wolke beginnt um uns herum zu brodeln und zu drehen, rund um uns beginnen Teile der Luft zu kondensieren, und sobald wir vor die neu entstehende Wolkenwand zur Seite ins Freie schießen, hat uns der Aufwind wieder fest in seiner Hand. In 3100 Metern Höhe über Sollieres beginne ich, kontrolliert und tief Luft zu holen. Lupo auf dem hinteren Sitz klingt sehr verunsichert. Nirgendwo sonst als beim Segelfliegen im Sturm bekommt man als Mensch im Angesicht der Natur bisweilen so eindrucksvoll vor Augen geführt, wer der Stärkere ist.

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Fünfte Stunde – 12:00 bis 13:00

Der Sturz im Modanetal fährt auch mir bis tief in die Knochen. Auf dem sicheren Kissen des schwächer werdenden Aufwindes über Sollieres erscheint es mir unsinnig, den gleichen Vorstoß nach Norden gleich noch einmal zu riskieren. Ich beschließe, den erzwungenen Wendepunkt kurz vor dem Carro zu akzeptieren und von hier aus mit dem zweiten Schenkel, einem Flug nach Süden zu beginnen. Wie schon vor einem halben Jahr staunen wir über den Dimensionssprung, der nach einer solchen Wende auftritt – was auf dem Hinweg eine Stunde dauerte, erledigt der Rückenwind für uns nun binnen zwanzig Minuten. Mit ungeheurer Geschwindigkeit lassen wir uns über den Frejus zurück in die Welle von Bardoneccia treiben, und als wir den Galibier zurück in das Felslabyrinth der Ecrins überqueren, bleiben hinter uns im Norden auch meine Enttäuschung und mein Schrecken über unser Abprallen auf dem Weg nach Aosta zurück.

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Am Fuß der Barre des Ecrins kann ich wieder mit 2 m/s auf 5000 Meter klettern, und im stetigen Auf und Ab der inzwischen routinierten Querung kehren wieder Rhythmus und Ruhe ins Cockpit zurück. Über die Champsaur führt uns ein langer Gleitflug wieder an den Pic de Bure zurück, dessen Leewelle wie festgenagelt vor der Südwand steht. Während wir mit 2,5 m/s steigen, kann ich den weiteren Flugweg nach Südwesten planen und beschließe, den Steigflug schon in 4000 Metern abzubrechen – südlich von Serres wird der freie Luftraum ohnehin wieder abgesenkt, und genau darunter möchte ich tauchen, um den Wolken im Rosanstal nachzujagen, eine Linie, die mir Klaus Ohlmann im Frühling einmal gezeigt hat.

Sechste Stunde – 13:00 bis 14:00

Ich spüre, wie der Tag sich verändert. Der Vormittag, geprägt von einem Bild kochender Rotor- und Bannerwolken tief unten an den sturmgepeitschten Gipfeln, gibt den Weg für die zweite Tageshälfte frei. Während ich über den wunderbaren Flugplatz von Serres hinweg ins das Tal von Rosans einschwenke und Kurs auf die gut ausgeprägte Linie von zerbrochenen Cumuluswolken knapp unterhalb nehme, kann ich förmlich zuschauen, wie die Wolken vom Rhonetal her langsam zerfallen. Eine neue Luftmasse schleicht sich dort unten heran, ein erstes Indiz dafür, dass auch dieser Sturm bei aller Heftigkeit nicht ewig bleiben wird.

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Wie sehr sich die Luftschichtung im Vergleich zum frühen Morgen geändert hat, kann ich auch an den Steigwerten erkennen, die in 3300 m Höhe nur noch 1-2 m/s betragen. Vorsichtig taste ich mich über dem Rotorband in fast stiller Luft weiter nach Südwesten, solange bis die Lücken zwischen den wertvollen Wolkenzeichen zu groß werden. Genau über der Stadt von Rosans wende ich den Duo Discus nach einer Flugstrecke von insgesamt 350 km wieder herum – zweite Wende, dritter Schenkel. Ich bin gespannt, wie weit wir dieses Mal nach Norden gelangen werden, denke ich mir noch, und beginne dem Aufwindband wieder zurück nach Serres zu folgen. Inzwischen trägt das Energieband große blaue Abschnitte und ich beginne, die Aufwindlinie bisweilen für kurze Zeit zu verlieren. Zum ersten Mal seit dem Start kann ich so wenig Struktur in der Luft finden, dass es zur Herausforderung wird, die Höhe zu behalten. Lupo findet einen französischen Segler im Flarm-Radar, unser erster Kontakt seit langem mit einem anderen Flugzeug. Aus Sicherheitsgründen entscheide ich mich dafür, den Umweg über den L’Oubiou zu nehmen, um dort unter dem Kollegen nach Steigen zu suchen. Aus 2800 m Höhe geraten wir endlich wieder in Turbulenzen und schnell sind wichtige 1500 m Höhe dazu gewonnen. Erleichtert nehmen wir wieder Kurs auf den Pic de Bure.

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Siebte Stunde –  14:00 bis 15:00

Als wir zum dritten Mal an diesem Tag am Pic de Bure vorbei fliegen, passiert etwas, was ich bei Nordwind bisher nur selten erlebt habe: Wir finden hier, vor der mächtigen Steilwand des berüchtigten Wellenberges, keinen Aufwind. Und wie sich der Tag verändert hat! Ich lenke den Duo Discus in leichten Schleifen durch die Leeseite des Berges und finde weder Steigen noch Sinken. Die Luft fühlt sich wie Glas an. Ich stelle mich in den Wind, um an der GPS-Geschwindigkeit die Windstärke festzustellen – noch immer sind es ungefähr 100 km/h, doch die Welle scheint zusammen gebrochen zu sein. Ob und wie dies mit den abtrocknenden Rotorbändern im Südwesten zu tun hat, kann ich mir nicht denken, doch ich schöpfe Verdacht. Jäh fühle ich mich wachgerüttelt von dem Unerwarteten, und das gerade als ich den Eindruck gewonnen habe, endlich die Kontrolle über den Flug erlangt und den Tag, den Nordwind in den Griff bekommen zu haben.

Doch wir sind immer noch 4000 Meter hoch – eine glückliche Entscheidung, noch vor dem Bure dem französischen Kollegen zumindest ins „mittlere Stockwerk“ zu folgen. Dass der Wind immer noch so stark ist, macht mich wahnsinnig. Ich versuche den Fahrtmesser immer an der Grenze vom grünen zum gelben Bereich zu halten – so schnell wie möglich, um gegen den Sturm nach Norden an den Rand des Valgaudemar zu kommen, und so langsam wie nötig, um den Turbulenzen standhalten zu können, die in jeder Sekunde eines solchen Fluges heftige Ausmaße annehmen können. Tastend folge ich einer tragenden Linie über das Tal von Chauffayer und bemühe mich, nicht unter 3500 m zu sinken – alles andere wäre für einen Einstieg in die Ecrins hoffnungslos.

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Die Luft ist so weich und ruhig wie vorhin am Pic de Bure, und ich merke, dass ich noch einen Gang zurück schalten muss. Auch wenn ich nur noch mit 50 km/h vorwärts komme, ist Höhe jetzt wichtiger als Zeit. Vorsichtig reduziere die Fahrt, um die schwach tragende Luft besser spüren zu können. Nach einer gefühlten Ewigkeit kommen wir über dem Taleingang des Valgaudemar an. Wie immer, beginne ich hier zunächst über dem Luvhang nach Turbulenzen oder anderen Hinweisen zu suchen. Im Gegensatz zum Anflug am Vormittag ist auch das starke Sinken vor dem Taleingang verschwunden. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich Windstille vermuten, doch was ist wirklich passiert? Hat die Atmosphäre zu schwingen aufgehört, fühlt sich die Luft deswegen seit einer halben Stunde so steif und unbewegt an?

Endlich, als ich dem Tal misstrauisch in 3600 m Höhe nach Nordosten folge, hebt sich das Variometer wieder knapp über die Null. Ich beginne prompt zu pendeln, und höre sofort wieder damit auf: Hier auszuschwenken würde bedeuten, von dem engen Energieband herunter zu rutschen. Noch nie habe ich so starken Wind und zugleich so wenig Aktivität in der Luft erlebt. Ohne Höhenverlust taste ich mich in das hohe Gelände, das uns angesichts der niedrigen Flughöhe schon wenige Kilometer weiter vorne deutlich zu überragen droht. Wenige Kilometer vor dem Talschluss wird das Steigen unmerklich stärker. Der Sturm ist so stark, dass es schwer ist, auf einer Stelle zu verbleiben, um ja nicht aus dem Aufwind herauszufallen. Ich halte den Atem an, während wir mit nur einem Meter pro Sekunde langsam wieder über 4000 Meter klettern. Unmerklich versinkt das Relief unter uns, und vor uns im Sturm wird der Blick über die riesige Mauer des Pelvoux frei. Was wir dahinter im Norden sehen, werde ich lange Zeit nicht vergessen.

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Achte Stunde – 15:00 bis 16:00

Der Gesamte Bereich nördlich der Ecrins hat sich in unserer Höhe mit Feuchtigkeit angefüllt. Überall entlang der südlichsten Viertausender der Alpen, nur knapp oberhalb der Gipfel, zeichnet das Auf und Ab des Windes ein bizarres Muster von flachen, hauchdünnen Lenticulariswolken. Das Bild nimmt mir für einige Sekunden den Atem, so dass ich fast vergesse, den Duo nicht aus der Hand zu verlieren. Dann beginne ich nachzudenken: An zwei, drei hintereinander gereihten Wellenwolken lassen sich die beiden größten Geheimnisse der schwingenden Atmosphäre ablesen, die dem Piloten bei einzeln stehenden Wolkenzeichen immer verborgen bleiben: Wellenlänge und Amplitude der Leewellen. Im Nordwesten, schon jenseits des Galibier, lässt sich das Problem erkennen, das uns die kuriose letzte Stunde im Sturm erklärt: Die Amplitude im Niveau der Gipfel ist flach, zu flach, nur wenige hundert Meter weit geworden. Offenbar ist die Luftschichtung durcheinander gekommen, und nun sind die Auf- und Abwärtsbewegungen des Mistralsturmes auf sehr geringe Steig- und Sinkgeschwindigkeiten zusammen geschrumpft. Dafür sind die Energiebereiche jetzt von Wolken markiert, dem herrlichsten Muster an Lentis, denen ich jemals folgen durfte. Als in 4800 Metern Höhe das Steigen wieder zurück auf Null geht, nehme ich wieder Fahrt auf. Die markierten Aufwindbereiche befinden sich allesamt auf der Nordwestseite der Ecrins, fernab der Standardroute durch die Brianconnais. Also wende ich den Duo Discus direkt nach Norden, auf die Wolkenvorderkanten am Parcours Royal zu, und beginne zu tanzen.

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Im Angesicht der riesigen Ecrins-Gipfel zu fliegen, ist das Spiel vor einer ganz besonderen Kulisse. Noch wenige Tage zuvor ist hier, im höchsten Gelände der Gegend, die erste Schneeschicht über die Felsen gefallen, die das Relief wie Puderzucker überzieht. Die Feuchtigkeit scheint zuzunehmen, und bald hat jeder Gipfel auf unserem Weg nach Norden einen silbergrauen, hauchdünnen Wolkenhut auf. Die Lenticularis zeigen eindeutig die schwachen, ruhigen Steiggebiete an, und sind dabei so dünn, dass man fast durch jede Wolke hindurch auf den Boden sehen kann. Auch wenn das Variometer seit langer Zeit nicht mehr über 1 m/s gegangen ist, verlieren wir kaum Höhe und finden uns bald über dem Col de Galibier wieder. Immer wenn es unübersichtlich wird, nehmen wir uns die Zeit um auf 4800 Meter, dem scheinbaren Scheitelpunkt der Wellen, zurück zu klettern. Um kurz vor vier Uhr lassen wir uns in den Kessel von Bardoneccia fallen, um von hier aus den finalen Vorstoß nach Norden vorzubereiten.

Neunte Stunde – 16:00 bis 17:00

Dass wir seit acht Stunden in der Luft sind, weiß ich nur von Lupos kontrollierendem Blick auf die Uhr. Trotz des extremen Anfangs, des viel zu starken Windes und der merkwürdigen Abflachung der Wellen am Nachmittag habe ich längst begonnen, diesen Flug zu mögen. Sogar morgens in fast 6000 m Höhe, und nun in tieferen Gefilden erst recht, sind die Temperaturen kaum unter Minus 10 Grad: ein für solche Flüge ungewöhnlich erträglicher Wert. Das Doppelsitzerfliegen passt mir heute gut, auch wenn Lupo sich aus den Entscheidungen bewusst zurück hält und konsequent seine Rolle als Zuschauer und Fotograf erfüllt – ein paar lockere Worte, ein wenig Gesellschaft und die Kontrolle über meine Ernährung helfen mir, die extremen Umstände dieses Fluges zu akzeptieren und bei 120 km/h Wind zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.

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Über Bardoneccia versuchen wir noch einmal, die maximale Höhe zu erreichen, um vorsichtig noch ein wenig weiter in den Norden zu fliegen. Aus 4800 Metern Höhe hangeln wir uns das Susatal hinauf nach Nordosten. Seit mehr als einer Stunde folge ich ausschließlich den Wolkensignalen. Die Aufwinde sind so schwach, dass sich unsere Höhe auf geschickten Routenabschnitten einfach nicht ändert. Zwar können wir von den Fluggeschwindigkeiten, die wir dem starken Wind am Vormittag entgegensetzen konnten, nun nur noch träumen, aber der weniger riskante Flugstil passt gut zur fortgeschrittenen Tageszeit. Als sich jenseits des Lac du Mont Cenis die Wolkendecke vor uns fast vollständig zu schließen droht, werfe ich einen langen, ruhigen, letzten Blick auf die Maurienne, in der wir heute Vormittag beinahe in die Falle getappt wären, und beginne in einer weiten Kurve, dem Norden für heute endgültig den Rücken zu kehren. Zwar verbleiben uns noch fast drei Stunden Flugzeit bis zum Sonnenuntergang, doch scheinbar wird das Wetterfenster, in das wir unsere Schenkel legen können, immer enger.

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Die gigantische Gleitzahl, die uns der Rückenwind nun endlich wieder verleiht, bringt uns in einem Zug bis zum Talschluss des Val Susa zurück. Wieder ist es nur 1 m/s, der uns nach oben trägt, doch wir haben Zeit. Mit ruhigen Steuerbewegungen lege ich den Duo in den Aufwind. Mit Geduld gelingt es uns erstmals seit mehreren Stunden, wieder über 5000 Meter zu steigen. Dann sausen wir mit dem Wind im Rücken wieder die Ecrins hinab – immer noch weisen die Wolken den Weg genau über die Linie des höchsten Geländes bis kurz vor den Pic de Bure.

Zehnte Stunde – 17:00 bis 18:00

Ich beobachte mich dabei, wie ich immer öfter auf die Uhr sehe. Beinahe erwische ich mich bei dem Gedanken: Wie lang müssen wir eigentlich noch? Die Müdigkeit und Erschöpfung nach neun Stunden Flug hat lange auf sich warten lassen, kommt nach der dritten Wende aber schlagartig über mich. Ich beginne mit Atem- und Muskelübungen. Es sind noch gut zwei Stunden bis Sonnenuntergang, und meine Entschlossenheit ist stärker als der Wind, als die Uhr, stärker als die Erschöpfung. Ich bekomme nur ein bis zwei Mal pro Jahr die Möglichkeit, im Mistral zu fliegen, und bin damit dennoch einer der häufigeren Piloten. Nichts wird mich davon abhalten, den Tag bis zum Ende auszunutzen, alle sechs erlaubten OLC-Schenkel abzufliegen, und so lange wie möglich in diesem Windfeld zu bleiben.

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Wir kommen in 3000 m Höhe wieder am Pic de Bure an, und ich versuche nervös, an dieser Stelle alles wie immer zu machen, trotz der schlechten Erfahrungen am Nachmittag. Als sich die Turbulenzen zum ersten Mal seit Stunden wieder häufen und wir bald darauf mit über 2 m/s im laminaren Steigbereich stehen, weiß ich nicht, ob ich mich wundern soll. In 4000 Metern gehe ich aus dem Aufwind heraus nach Westen, um eine Linie nach Aspres zu suchen. Langsam nimmt die Abendstimmung das Gelände ein, und auch die Luft wird wieder weich und ruhig. Ich taste im Seitenwind umher, es trägt überall ganz leicht. Mit kaum mehr als vermindertem Sinken schießen wir über Aspres nach Westen zum Col de Cabre. Über der Passhöhe drehe ich um und setze den vierten Wendepunkt, um der gleichen Linie wieder zurück zu folgen. Ich drehe mich zu Lupo um, zeige auf die Lenticulariswolke über dem Pic de Bure und sage: „Ich glaube, es ist Zeit für einen sehr, sehr langen Endanflug.“

Elfte Stunde – 18:00 bis 19:00

Zum fünften und letzten Mal an diesem Tag beginnen wir am Pic de Bure in 3000 m Höhe mit dem Steigflug. Die Strömung ist im Vergleich zum Nachmittag nicht wiederzuerkennen und wir gelangen in zwei Stufen in den kräftigen, inzwischen knapp 3 m/s starken Aufwind. Es soll die letzte Welle des heutigen Tages sein. Noch einmal stelle ich den Duo mit leichten Pendelbewegungen in den Wind, noch einmal lasse ich die Schwerelosigkeit der Welle und den regungslosen Aufstieg auf mich wirken. Der Höhenmesser wandert durch 4000, bald auf 5000 Meter, und es geht noch weiter hinauf. Es musste über zehn Stunden dauern, bis der Tag uns einmal etwas schenkt – doch nun, mit dem letzten Schachzug des Fluges, wird doch noch alles einfach. In 5700 Metern Höhe beschleunige ich den Duo noch ein letztes Mal nach Norden, noch einmal bis ins Herz der Ecrins hinein, bis die Tageszeit und die Höhe uns zur Umkehr zwingt. 150 Kilometer Gleitflug liegen vor uns. Querab der Barre des Ecrins kehren wir dem Wind ein letztes Mal den Rücken, schießen ein letztes Mal über die Lenticulariswolke über dem Talausgang der Champsaur hinweg.

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Mit 300 km/h fliegen wir nach Süden. Noch immer sind wir so hoch, dass wir die Küste sehen können und das Meer, das im Südwesten von der nun unaufhaltsam sinkenden Abendsonne in gleißendes Licht getaucht ist. Wir sinken durch 4000 Meter, 3500, 3000. Das breite Tal der Durance weist uns den Weg hinaus aus den hohen Bergen der Provence – wir passieren Sisteron, Saint Auban, Digne. Lupo schaltet in 2500 m Höhe die Sauerstoffgeräte ab und ich rupfe mir die Atemkanüle und Sonnenbrille aus dem Gesicht. Elf Stunden sind wir nun unterwegs, und als der kleine Flugplatz Puimoisson weit hinten auf dem Plateau von Valensole, am Fuß der Serre de Montdenier wieder in Sicht kommt, schaue ich nach längerer Zeit wieder auf das PDA und weiß, dass wir heute achthundert Kilometer weit geflogen sind. Es war der längste Flug meines Lebens, der weiteste Flug des Jahres, und wahrscheinlich einer meiner letzten in diesen Wochen in Frankreich. Einmal noch wird die Thermik in die Provence zurückkehren, eine Woche werden wir noch fliegen können, doch von Tag zu Tag wird die Luft nun stabiler werden.

Der Flug heute hat uns sicher nicht über die maximale Strecke gebracht, die möglich gewesen wäre – doch mir schwant, dass bei solchen Windgeschwindigkeiten und einer so flachen Wellenbildung das Limit schneller erreicht ist, als man glaubt. Wir waren wohl verdammt nah dran, denke ich mir, als wir in 1500 m Höhe am Rand des Assetals wieder in stärkere Turbulenzen eintauchen. Ein neuer Tag im Wind, ein Tag, den mir niemand mehr nehmen kann, geht zu Ende. Für mich war es mehr denn je Spiel und Ernst, Tanz und Kampf, Mut und Furcht, und das gesamte Spektrum der Gefühle, komprimiert und zusammengefasst in elf Stunden. Als ich die Seitenruderpedale für die Landung einstelle und das Fahrwerk ausfahre, merke ich, wie befremdlich der Gedanke an den warmen, festen Erdboden in der langen Zeit geworden ist. Und jede Minute dabei war es wert.

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