Hundert mal elf

Auch wenn es auf den ersten Blick nicht nett aussieht: Die Antwort ist „nein“.

Lasst mich ein Stück ausholen. In den Tagen nach meinem fast dreizehnstündigen Alleinflug am 16. September 2015 – einem Tag, der einen erstklassigen Sturm aus Südwest und viele weitere Zutaten zu einem richtig guten Psychothriller zusammen warf – bekam ich sehr viele Anrufe und Nachrichten. Und ich muss zugeben, dass ich das große Echo auf diesen Flug sehr gemocht habe. Ich bin dankbar, dass ich mit den Flügen und Ideen, in die ich seit Jahren viel Arbeit investiere, das Interesse so vieler Menschen wecken kann. Dass ich nicht alleine bin. Ich bin dankbar für die Motivation, den langen Weg immer weiter zu gehen.

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Doch die Antwort ist „nein“. Viele haben mich gefragt – es ging von „Warum hast du mich nicht mitgenommen?“ über „Das nächste Mal komme ich aber mit“ bis „Kannst du mir das auch beibringen?“.

Aber das kann ich nicht. Zu gerne würde ich „ja“ sagen, mit jedem einzelnen würde ich tagelang im Föhnsturm durch das Gebirge jagen und alles erklären was ich nur weiß, und wir würden gemeinsam die vielen Rätsel lösen, die der Südwind uns dort zwischen den Felsen aufgibt. Doch das ist alles nicht so einfach.

Es gibt nicht genug Tage. Nutzbarer Föhn ist eben einfach nur zwei, dreimal im Jahr. Und ihr könnt sicher sein: Ich fliege im Doppelsitzer, so viel ich nur kann. So viel, dass es für mich längst nicht mehr selbstverständlich ist, am richtigen Tag überhaupt einmal alleine loslegen zu „dürfen“, ohne Schüler, ohne Trainee, ohne Begleiter. Es ist mir auch gar nicht mehr so wichtig. Doch es gibt Tage, die gehören einfach mir. Der 16. September war ein solcher Tag.

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Aber natürlich kann ich dich mitnehmen.

Es ist Dienstag, der 15. September, und der Tag neigt sich seinem Ende zu. Düstere Schichtwolken liegen über dem Alpenrand und hüllen die Gipfel der Randberge in ein gleichmäßiges, bleiches Nichts, während die Abenddämmerung rasch über das Land fällt. Sonst ist alles still. Wenn wir es nicht besser wüssten, wenn wir nicht seit zwei Tagen wie gebannt in jeder freien Minute die Wetterkarten verschlungen hätten – wenn wir es nicht besser wüssten, dann hätten wir uns hier heute nicht blicken lassen. Aber sei unbesorgt: Morgen früh, noch bevor wir aufwachen (und wir werden früh, sehr früh aufwachen), wird der Tiefdruckwirbel  im Westen schon das Rhônetal erfasst haben, und er wird einen Sturm vor sich her schieben, wie wir ihn seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen haben. Morgen früh um 06.50, bei Sonnenaufgang, werden wir in den Alpen den Tanz eröffnen.

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Du fragst, was ich vor habe. Die Frage hab ich mir selbst auch schon stundenlang gestellt. Um den Fakten einmal ins Gesicht zu sehen: für den Europarekord bräuchte ich 1116 km, für den DMSt-Gesamtsieg 1158 km. Jeweils über nur drei Wendepunkte. Das sind so absurde Distanzen, dass ich schon den ganzen Tag mit einem Schauer auf dem Rücken herum laufe. Aber mit den Jahren verliert das Unmögliche seine Unnahbarkeit. Spätestens seit dem 04.11. sind es nicht mehr nur die schieren Zahlen, die mich überwältigen, sondern eher die Möglichkeiten. Wenn deine Träume dir keine Angst machen, sind sie nicht groß genug. Und deshalb schreibe ich 1160 Kilometer aus, ohne Rücksicht auf die Mauern in meinem Kopf, deren Überreste ich noch nicht überwunden habe.

Lektion Eins – Geometrie für Fortgeschrittene. Also 1160 Kilometer. Mein gewöhnlicher Ansatz, schon mehrere Monate alt, sah so aus:

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Jedoch hat der Tag einen Haken: Die Westkomponente im Wind ist so unangenehm groß angesagt, dass gerade der Hangflug tief im unstrukturierten Relief des Gesäuse sehr riskant werden könnte. Der Weg zur Rax würde den ganzen Flug schon nach der Hälfte der Strecke unwiederbringlich gefährden. Das geringste Übel läge immerhin noch in den Eisenerzer Alpen, das Wildfeld oberhalb von Trieben, auch diese Wende von der Erreichbarkeit her schon fraglich, aber durchaus denkbar. Trotzdem muss damit eine der beiden anderen Wenden noch weiter in den Westen:

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Doch auch diese Aufgabe ist so nicht haltbar, da an Wochentagen der Luftraum in der Schweiz MIL-ON, also auf FL 130 (ca. 3900 m) gedeckelt ist – besonders ohne Transponder. Die Linie westlich von Bad Ragaz traue ich mir in der niedrigen Höhe einfach nicht zu, sie könnte zu einer unerträglichen Turbulenzfalle werden – auch wenn Rainer Cronjäger und andere Schweizer Experten bereits das Gegenteil bewiesen und mir auch wertvolle Informationen dazu gegeben haben. Das möchte ich noch einmal an einem Tag ausprobieren, an dem weniger auf dem Spiel steht. Mit diesen beiden  Grenzen im Westen und Osten – Barrieren in meinem Kopf, die erst nach drei, vier weiteren Flugexperimenten fallen werden – ist der erste oder der letzte Schenkel zu kurz für die Rekordstrecke.

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Die Möglichkeit, die Aufgabe zu spiegeln und den längeren, östlichen Teil anstelle des kürzeren, westlichen Abschnitts zweimal zu nutzen, fällt aus wissenschaftlichen und sicherheitstechnischen Gründen aus: Ein Abflug nach Osten würde bedeuten, schon früh morgens zum ersten Mal längere Zeit an den Hängen Tirols und der Steiermark zu verbringen, die zu dieser Tages- und Jahreszeit in der massiv gesammelten nächtlichen Kaltluft der breiten Trogtälern von Inn, Salzach und Enns versinken. Dort wird sich erst Hangaufwind bilden, wenn die Temperatur im Talgrund um mehrere Grad gestiegen ist, während die Hänge, die für den Westabflug nötig sind, allesamt oberhalb 2500 m liegen und damit über die in den engeren Tälern Vorarlbergs ohnehin weniger präsente Kaltluft schon bei Sonnenaufgang erhaben sind. Doch auch wenn die Orographie keine solchen Argumente liefern würde, wäre ein Ostabflug morgens gegen die aufgehende Sonne, gepaart mit einem abendlichen Anflug auf Westkurs gegen die untergehende Sonne, aufgrund der schlechten Sicht im Gegenlicht ein Sicherheitsrisiko, das gerade unter den extremen Bedingungen des Föhnsturmes für mich nicht zur Debatte steht, wenn es sich nur irgendwie vermeiden lässt.

Ein drittes Argument gegen eine Spiegelung der Aufgabe, um den Schwerpunkt der Strecke nach Osten zu verlagern, ist die starke Westkomponente im Wind: Diese könnte den östlichen Teil der Route, die primär auf Hangaufwind aus Süd ausgelegt ist, mit unerwarteten Schwierigkeiten versehen, während sie der der Bildung von hochreichenden Wellen, wie sie vor allem im westlichen Teil des Fluggebietes auftreten, nur wenig entgegen stehen wird. Somit bietet es sich nach allen sinnvollen Gesichtspunkten eher an, den West-Teil zweimal zu befliegen, und dafür die kürzeren Schenkel in Kauf zu nehmen. Dies bedeutet allerdings: Der Zielpunkt darf nicht zu Hause in Königsdorf liegen. Der letzte Schenkel streckt sich bis zum Flugplatz St. Johann in Tirol. Von dort aus könnte ich am nächsten Tag im abklingenden Wind zurück fliegen oder notfalls auf der Straße mit dem Anhänger heim kommen – allerdings mit einem europäischen Rekord in der Tasche…

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Ich gebe mir zehn Prozent, dass es funktioniert. Du fragst, was mit den anderen neunzig ist. Ich habe eine Stimme im Ohr, die mir vor dem Abschied zuflüsterte: „Denk dran. Zur Not – einfach fliegen.“

Lektion Zwei – Fliegen mit allen Händen und Füßen. Ich versuche gerade, mit der linken Hand über den Flügel hinweg blind Fotos vom Sonnenaufgang zu schießen. Er baut sich in unserer leichten Linkskurve am östlichen Horizont in einer Pracht auf, die ich wie bei jedem Frühstart mangels freier Sekunden hier im Cockpit gar nicht richtig betrachten kann, als die erste Böe aus Südwesten einschlägt. Ich lasse die Kamera einfach fallen, gehe mit der rechten Hand und dem rechten Bein voll dagegen und kann gerade noch verhindern, dass das Schleppflugzeug aus dem Sichtfeld heraus purzelt. Die linke Hand schnellt in die Nähe des gelben Ausklinkknopfes. Mit dem Ellenbogen versuche ich, die Kamera zu ertasten und neben meinem Arm sicher zu verstauen. Noch immer komme ich mit den Rudern alle paar Sekunden an ihre Anschläge. Sobald Christian, der vorne in der Remo wahrscheinlich auch vollen Körpereinsatz zeigt, den Kurs auf Südwest, zum Abflugpunkt Mittenwald, stabilisiert hat, haben wir die Sonne fast im Rücken. Der Horizont ist noch fast stockfinster. Die Sonnenbrille brauche ich erstmal nicht mehr – ab auf den Schoß, griffbereit. Über dem Kochelsee erwischt uns der nächste Rotor, rauf, runter, links, rechts. Das Schleppseil hängt bedrohlich durch, ich kreuze die Ruder und versuche die Schwingungen abzubauen. Was die Ordnung in meiner Kapsel angeht: Objekte, die ich schon gestern Abend an verschiedenen Stellen im Cockpit fest gemacht und verstaut habe, fliegen quer durch die Kabine. Ich habe keine Hand frei, um irgendwas aufzufangen.

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Kurz vor Mittenwald zieht Christian im ersten richtigen Aufwind des Tages das Gas aus der Schleppmaschine. Wir steigen immer noch mit fast 5 m/s. Ich brülle „DANKE!!“ im Funk und werfe augenblicklich das Seil ab. In der ersten Schleife in 2600 m Höhe sticht die tiefe Sonne zum ersten Mal seit dem Start wieder voll in die Kanzel. Ich taste nach meiner Sonnenbrille. Sie ist nicht mehr da, weggeflogen. Also meide ich Ostkurven und werfe mich gegen den brüllenden Südwestwind – hier müssen es sicher 80 km/h sein – an den Wettersteingrat. Die drei Kilometer kosten mich fast 400 Meter Höhe. Im Luv angekommen muss ich sehr nah an die Felsen gehen, um ins Aufwindband zu gelangen. Dann steige ich mit gut 1 m/s am Hang entlang hinauf, bis ich über den Rücken nach Norden sehen kann, wo das scharfe Licht, das zwischen den den Wolkenstreifen von Minute zu Minute stärker durchbricht, das bayerische Oberland in farbige Streifen schneidet.

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Lektion Drei – Vertraue niemandem. Eine halbe Stunde später schiebt sich das tiefe Becken des Inntals hinter dem Wanneck hervor. Die Querung des Talkessels von Imst wird umso schwerer, je weiter westlich die Windrichtung ist. Heute stehe ich auf der Querung über Nassereith im Wind und komme nach Westen kaum vorwärts. Es ist mehr West als Süd. Nur damit eines klar ist: Das ist sehr, sehr schlecht, denn dafür gibt es (noch) kein sicheres Konzept.

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Als ich mich der Luvseite der Heiterwand nähere – dem einzigen Hang auf Kurs, der trotzdem noch sinnvoll im Wind steht, spüre ich, wie die Strömung mich nicht an das Relief heran lassen möchte. Ich erhöhe die Fahrt und werfe mich mit hoher Energie direkt an die Wand – eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Ich weiß, dass ich in spätestens zehn Sekunden eine „go / no go“ – Entscheidung erzwingen muss. Einen Ruck spüre ich noch, dann beginnen die Instrumente einfach rückwärts zu laufen. Momente lang fällt der Discus ins Bodenlose – noch bevor ich sinnvoll reagieren und ins Tal abdrehen kann, bin ich 250 Meter herunter gefallen. An einem Hang, auf dem mindestens 60 km/h Wind in einem beträchtlichen Winkel stehen.

Es gibt nur eine Möglichkeit, solche Fallen zu parieren: gegen den Wind über das Tal ausweichen. Normalerweise hat man dann aber schon so viele Höhe im Abwind verspielt, dass auch dies nicht viel nutzt. Über der Talmitte sehe ich einzelne, hohe Quellungen in die zerbrochene Stratusdecke eingelagert. Dort oben könnte man die Welle hinein interpretieren, die wenige Kilometer hinter mir mir voller Gewalt von oben auf die Luvhänge schlägt. Ich quere in einer weiten Schleife das gesamte Tal und finde über dem Fluss gerade mal eine rote Null. Hier unten, tief zwischen dem Alpenhauptkamm und den Lechtaler Alpen eingeklemmt, wirkt das Tal wie ein Windkanal, der die Windrichtung so stark verdreht und die Windstärke gleichermaßen erhöht, dass es mich erstaunt, obwohl ich bereits mit dem Schlimmsten gerechnet habe. Jetzt komme ich nicht einmal mehr vor bis Mils. Ich weiß, dass ich noch ungefähr eine Minute habe, um irgendetwas zu unternehmen, bevor ich in die Windstille des Tales einsinke. Endet die Reise schon nach 50 Kilometern? Ich kann auf Anhieb zehn Namen nennen, die im Föhn schon auf der Wiese in Imst landen mussten, und das durchaus schon bei südlicheren Windrichtungen. Doch hat das heutige Extrem nicht wiederum einen Vorteil, den es normalerweise nicht geht?

Der Tschirgant, schießt es mir durch den Kopf. Die Westflanke der Pyramide ist das einzige, was sich dem Wind jetzt noch entgegen stellen könnte. Das bringt mich zwar nicht weiter auf meinem Kurs, aber wenigstens verschafft es mir Zeit zum Nachdenken. In 1900 m habe ich die Nase des Massivs nach einer gefühlten Ewigkeit umrundet und luge vorsichtig um die Ecke. Wenn ich mich jetzt zum zweiten Mal irre, ist der Tag schon verloren, bevor er richtig begonnen hat. Doch dann erfassen mich die Böen von unten und ich steige in engen Schleifen an der Westflanke der Pyramide mit 2-3 m/s hinauf. Von hier oben kann ich sehen, was sich selbst auf der Landkarte nicht eindeutig erschließt: Der Tschirgantgipfel ist die einzige Möglichkeit, im Strömungskanal des Oberinntal bei Westwind sinnvoll Höhe zu gewinnen…

Lektion Vier – Jede Minute zählt, jede Sekunde schmerzt. Eine halbe Stunde später fädele ich den Discus mit tief gerunzelter Stirn, diesmal noch 300 Meter tiefer als beim letzten Mal, wieder in den Fuß vom Tschirgant ein. Hier unten ist es Maßarbeit, dem flach ausufernden Hangfuß zu folgen und den Anschluss an die Strömung nicht zu verlieren. Schleife für Schleife wird der Aufwind wieder stärker, aber ich kann mich darüber gerade nicht freuen. Das kann doch nicht wahr sein, flüstere ich. Auch die zweite Attacke nach Westen, vom höchsten Punkt des Hangaufwindes aus 2400 m nach Westen, gegen den Wind an Imst vorbei, endete nach qualvollen 15 Minuten Pressens gegen den Wind und 15 Kilometern Strecke, erst in der Talmitte (kein Rotor, sondern gelegentliche Ausschläge von -2 auf -1) und dann an der Westnase des Laggersberges (kein Hangaufwind, sondern 30 Meter Höhenverlust nach 5 Minuten achtern). Ich predige immer, auf gar keinen Fall an den Laggers zu fliegen, da er trotz seiner vielversprechenden Höhe, Form und Ausrichtung viel zu sehr von den folgenden, noch höheren Rippen hinauf zur Parseierspitze abgeschattet wird. Doch auf die Vorderseite dieser Rippen kommt man eben auch nicht, ohne vorher irgendwo Höhe gewonnen zu haben. Was soll ich nur tun, frage ich mich, frage ich laut ins Nichts hinein gegen den übermächtigen Wind. Was soll ich denn machen?

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Die Stelle ist wie verhext – nichts passt zusammen, nirgendwo organisieren sich die Auf- und Abwinde in einem nutzbaren Muster. Ich probiere es noch ein paar Minuten über verschiedenen Stellen in der Talmitte, aber in 1800 drehe ich um: Wenn ich mich jetzt nicht sofort zurückfallen lasse und wieder Rettung am Tschirgant suche, sinke ich aus dem Windfeld. Die Wende fällt schwer, sie tut physisch weh. Insgesamt habe ich mich nun seit einer ganzen Stunde nicht sinnvoll vom Fleck bewegt. Den Gedanken, dass die Aussichten auf den europäischen Rekord nach diesem Zeitverlust nun gegen Null gehen, versuche ich erfolglos zu verdrängen. Wenn die scheinbar unlösbare Situation nicht so unglaublich interessant wäre – wird das Oberinntal zur Endlosschleife oder gibt es trotz allem einen Weg ins Montafon? – könnte ich fast von schlechter Laune sprechen. Wieder oben am Pyramidengipfel des Tschirgant in 2400 m angekommen, drücke ich das Flugzeug diesmal nach Südwesten. Ich kann förmlich sehen, wie es mich nach links (!) weg schiebt. Irgendwo zwischen Venet und Ötztaleingang könnte im Talkessel ein Rotor stehen. Eine Stunde verloren. Und das so früh am Morgen. Es ist doch zum verrückt werden.

Lektion Fünf – Es gibt immer einen Weg. Um fünf Minuten vor Neun macht Segelfliegen wieder Spaß. Über dem Inn-Knick jenseits des Venet touchiere ich in abenteuerlicher Höhe die erste Welle, die mich zuerst zerbrochen, doch mit der Höhe immer gleichmäßiger am Gipfel vorbei trägt. In 3300 m verlagere ich zum Parseier vor eine Gruppe von Hebungswolken, die aus anderen Winkeln gar nicht sichtbar gewesen wären. Endlich mal zur richtigen Zeit am richtigen Ort, denke ich mir. Immer luvseits am vordersten Rand der kondensierenden Wolkenstücke bleiben, auch wenn die schönsten Wolken teils schon mehrere Kilometer ins Lee abgewandert sind.

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Mit jedem Kilometer nach Westen wird die Wolkenoptik besser. Die Böen lassen 4000 m Höhe langsam nach und ich kann mit 200 km/h über den Arlbergpass ins Montafon und weiter über die Schesaplana in den Kessel von Bad Ragaz springen. Auch wenn die Ground Speed immer noch fast 60 km/h weniger beträgt, geht alles ganz schnell.

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Tief unten an den Felsen des Massivs sehe ich Flugzeuge im Luv, spüre aber selbst kaum Hebung. Deswegen schleiche ich nach drei vorsichtigen Kreisen einfach weiter über das Tal. Laut Rechenmodell und Erfahrung der Schweizer Kollegen kommt man aus diesem Kessel schon immer heraus, entweder im Bereich des Flugplatzes in einer Welle, die einem den Weg weiter nach Westen frei schlägt – oder notfalls unten am Hang des Gonzen, der im Kanal des Rheintals genau angeblasen wird. Aber so weit soll es gar nicht kommen. Um 10.15 Uhr Lokalzeit umrunde ich den ersten Wendepunkt „Ragaz Nord“ – geflogene Strecke 145 km, bisheriger Schnitt 48 km/h. Der Zeitrückstand bleibt bei einer Stunde, aber der Tanz zwischen den Wolken des großen Schweizer Wellensystems lässt die Enttäuschung langsam wieder der Motivation weichen: Bis Sonnenuntergang sind noch gut neun Stunden zu fliegen….

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Lektion Sechs – Rückenwind ist fast so gut, wie Gegenwind schlecht ist. Über diesen Fakt staune ich seit vielen Jahren jedes Mal aus Neue. Normalerweise verschätzt man sich vor allem beim Mistral-Fliegen in Südfrankreich so enorm, wenn man sich gegen den Nordwind viele Stunden lang über Susa oder in die Maurienne gekämpft hat, um dann nach einem Bruchteil der Zeit wieder ganz automatisch zurück „gespült“ zu werden. Bei Föhn fliegt man zwar meistens eher quer zum Wind, so dass sich die Geschwindigkeiten auf West- und Ostkurs nicht maßgeblich unterscheiden – aber heute, bei dieser unerbittlichen Westkomponente, schaffe ich pro Minute mehr als 5 Kilometer.

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Der Flug mit bis zu 350 km/h nach Osten ist schwieriger, als er scheint: Wolkenbänder stellen sich in den Weg, verdecken den Blick auf das Gelände, und man muss sehr weit voraus denken, um nicht plötzlich auf der falschen Seite einer Wellenwolke, dazu noch im falschen Paralleltal, im Handumdrehen den Faden zu verlieren. Trotzdem streckt sich der Gleitwinkel des Discus ganz automatisch auf fast 1:100, so dass Höheneinteilung für den nächsten Abschnitt kein Problem ist. Rechtzeitig vor der Luftraumgrenze presse ich mich wieder unter die 11000 Fuß. Hoch über der Heiterwand, deren Falle beim tiefen Anflug früh morgens beinahe das Ende des Fluges bedeutet hätte, mache ich eine seltsame Beobachtung: Ein winziges Flugzeug zieht tief unten im Luv seine Schleifen. Das Flarm-Radar bestätigt mir: Jetzt trägt der Hang. Irgendetwas scheint sich in der letzten Stunde zum Guten verändert zu haben – ein weiterer Beweis dafür, wie nahe im Föhn Misserfolg und Gewinn zeitlich und räumlich aneinander liegen. Doch es macht Hoffnung für den weiteren Weg.

Lektion Sieben – Von Wind und Wildwasser. Auch in den unteren Schichten im Relief hat der Wind seine westliche Richtung, so dass ich weiterhin mit Gleitzahl 1:100 bei 170 km/h unterwegs bin. Das ist die gute Nachricht, und die schlechte zugleich. Innsbruck fliegt vorbei, die Nordkette wird vom Windstrahl, den der Brenner durch den Alpenhauptkamm schießen lässt, wie gewohnt zuverlässig angeblasen. Doch der Hangaufwind reicht kaum bis 2700 Meter, weil der Luvwinkel so miserabel ist. Immer wieder muss ich mir Zeit zum Steigen nehmen, um bei jeder noch so kleinen Querung hoch genug und ohne Risiko anzukommen. Eigentlich komme ich auf diese Weise ganz gut vorwärts, aber ich habe keine Vorstellung davon, wie unter diesen Bedingungen der Rückweg aussehen wird. Doch bis dahin sind es noch einige Stunden.

Am Rofan beschließe ich, die Lücke zum Wilden Kaiser mithilfe der „Wildwassertaktik“ zu überbrücken: Gerade auf diesem Abschnitt des Inntals mischen sich sturzbachartige Luftmassen aus dem Zillertal und vom Brenner herab in den Kanal, der die gesamte Luft unter wildem Schäumen und Brodeln an Kufstein vorbei ins Flachland befördert. Wer gegen diese Strömung anfliegen muss, ist den Naturgewalten ausgeliefert wie auf hoher See – nach Osten hingegen lässt man sich einfach  nur treiben. Die einzige Herausforderung besteht darin, auf dem Weg keinen absteigenden Wellenast zu durchschneiden, die Geschwindigkeit (und damit den Höhenverlust) möglichst gering zu halten, alle Böen sauber auszugleichen und zu warten, bis der Windstrahl einen am Westende des Wilden Kaisers im Luv ausspuckt. Auf diese Weise verliere ich über die 35 Kilometer breite Querung hinweg nur 700 Meter – in der bittersüßen Gewissheit, gerade eine Entscheidung getroffen zu haben, die sich unter Umständen nie mehr rückgängig machen lässt. Doch darüber sprechen wir später.

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Lektion Acht – Zwei Welten. „Der Osten“ und „Der Westen“ – das ist naturgemäß eine sehr vage Beschreibung räumlicher Zweiteilung. Es hängt immer davon ab, im Bezug auf welchen Ort diese Richtungen gewählt werden. In den Alpen allerdings mache ich regelmäßig die Erfahrung, dass insbesondere bei stürmischen Föhnlagen tatsächlich eine Teilung des Fluggebietes in zwei Wetterräume herrscht, die irgendwo auf der Breite des Landstriches Tirol aufeinander treffen – meistens offenbart diese Grenze genau auf der schwierigen Querung zwischen dem Rofan und dem Kaiser ihre taktische Bedeutung.

Westlich dieser Linie ist der Einfluss der anrückenden Frontlinie deutlich spürbar. Alle Dinge erreichen extreme Ausmaße: der Wind besitzt mitunter Orkanstärke, der daraus folgende kräftige Föhneffekt liefert sich in atemberaubenden Wolkenschauspielen einen erbitterten Kampf mit der vom einbrechenden Tiefdruck angelieferten Feuchtigkeit in allen Höhen. Sturmgepeitschte Wolken demonstrieren eindrucksvoll den chaotischen Verlauf der Luftströmungen, hochreichende Wellen schlagen von oben auf turbulente, instabile Luv- und Leewirbel, und Situationen können binnen Minuten von einem Extrem ins andere überschwingen. Der Westen bietet ein Fest des Fliegens im Sturm, in dem ein Übermaß an Möglichkeiten und Problemen sich die Waage halten.

Der Flug im Osten des Föhnbereichs – durch die Kaiserquerung oft schlagartig eingeleitet – lässt in vielen Fällen eine sanfte Ruhe einkehren. Die Front ist noch ausreichend weit entfernt, um dem Föhneffekt Platz für einen oft strahlend blauen Himmel zu überlassen, der die Berge an einem Herbsttag wie dem heutigen in klare, warme und freundliche Farben hüllt. Der Wind nimmt gerne eine Stufe ab, zwar immer noch in Sturmstärke, aber nicht mehr so gewaltsam wie noch vor einer Stunde im Westen. Wellen – falls noch vorhanden – greifen nicht mehr so gewaltsam ins Geschehen ein, sondern legen sich gerne samtweich über das Gelände, und sogar Thermik kann sich unter günstigen Bedingungen noch helfend einmischen. Da noch dazu die normale Operationshöhe mit dem Gelände absinkt, von 3000-4500 Metern auf nurmehr 2000-3000 Meter, breitet sich im Cockpit eine angenehme Wärme aus. Ich drehe eng an den Felsen der Südwand am Wilden Kaiser die ersten Schleife in 1-2 m/s. Ich spüre, wie die neue Umgebung mir gerade recht bekommt. Der Flug geht jetzt in seine sechste Stunde, es ist höchste Zeit für eine kleine Pause.

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Lektion Neun – Kopfentscheidungen und Bauchentscheidungen. Die Hangflugroute der Ostalpen ist ein Tanz zwischen vielen einzelnen Ensembles aus Kalk und Granit. In welcher Reihenfolge, mit welcher Priorität man sie anfliegt, welche Abkürzungen man wählt oder sein lässt, wie viel Wert man auf Höheneinteilung legt und an welchen Orten man wie lange zum Steigen anhält, bleibt der eigenen Kreativität überlassen. Mein Konzept mündet fast jedes Mal in leicht unterschiedlichen Routen: Wolkenoptik, Windrichtung und mein Grundgefühl über die Vertrauenswürdigkeit der Route definieren den Weg, auf dem ich grundsätzlich versuche, an jedem Berg genau so hoch zu steigen, um am nächsten Berg im oberen Drittel anzukommen. Loferer Steinberge, Steinernes Meer, Hochkönig, Tennengebirge, Dachstein. An keinem der Berge schaffe ich es, die Felsen weit genug zu übersteigen, um meinem Konzept des oberen Drittels komplett treu zu bleiben – doch noch immer weht der Wind aus 210 bis 230 Grad. Die meisten Querungen sind zwischen 10 und 20 Kilometer lang, aber die Rückenwindkomponente lässt mich Höhenmeter sparen, die ich an jeder einzelnen Station gut gebrauchen kann. Ich versuche, nicht an den Rückweg zu denken, solange es einen Weg voraus gibt.

Beim Einstieg in das Dachsteinmassiv fühle ich, wie die Erholung der letzten Stunde im ruhigen, sonnigen Relief wieder lebhaftere Geister in mir weckt. In diesem regelmäßigen, angenehmen Stil – halb Hangaufwind, halb Rückenwind – könnte ich ewig weiter machen. Zum ersten Mal seit dem Wendepunkt in der Schweiz erlaube ich mir, die Schnittgeschwindigkeit nachzurechnen: In den letzten zweieinhalb Stunden bin ich dreihundert Kilometer weit nach Osten geflogen – ein Schnitt von etwa 120 km/h. Da die Aufwindstärke an den Hängen selten mehr als 1,5 m/s betrug und die Rückenwindkomponente immer 30-40 km/h stark war, glaube ich nicht, dass ich diese Geschwindigkeit auf dem nächsten Westschenkel auch nur annähernd halten kann – dies müsste ich aber, um bis Sonnenuntergang die Aufgabe zu erfüllen. Ich beschließe, am Dachstein alle Augen und Ohren offen zu halten, und dann spätestens am Grimming eine Entscheidung über den weiten Osten zu treffen.

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In 2300 m – höher habe ich es am Westausläufer des Massivs nicht geschafft – steige ich in die massive Südwand des Dachsteingebirges ein. Zum ersten Mal seit dem westlichen Ast des geteilten Brennerstrahls habe ich Ostwind. Sonst fühlt sich die Luft über die ganze Wand hinweg tot an. Respektvoll umfliege ich die Seilbahn, deren Drähte enorme Höhen über Grund erreichen. Schnell sind 400 Meter verspielt. Ich erinnere mich daran, was mir hier vor einigen Wochen mit Maria passiert ist – der gesamte Dachsteinblock wurde vom seichten Föhnwind einfach umströmt, im Westen Ostwind, im Osten Westwind. Als ich tief unter der Scheichenspitze vorbei um die Ecke biege, bemerke ich, wie die Ground Speed im anhaltenden Sinken langsam ansteigt. Tatsächlich, wieder das gleiche Spiel. Doch zum Abdrehen ist es auch zu spät. In knapp 1900 m lasse ich mich an den östlichen Pfeiler der Dachsteingruppe treiben – endlich hält sich das Vario für ein paar Sekunden über Null. Über einige Achten kann ich sogar knapp 2 m/s halten, bevor sich das Steigen wieder verflüchtigt. Doch von hier aus zurück zu fliegen, wieder durch das Sinken und die Umströmung, macht auch wenig Sinn. Außerdem liegt mein Wendepunkt von hier aus immer noch 85 Kilometer weiter östlich. Also taste ich mich langsam weiter.

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Als ich mit 110 km/h vorsichtig die Kammspitze überfliege, kommt mir oberhalb ein Schleppzug entgegen. Ich hebe eine Augenbraue. Es muss einen Grund geben, warum man in Niederöblarn nicht einfach am Grimming ausklinkt, sondern sich fast 15 Kilometer weit weg ziehen lässt. Doch es ist zu spät, ich bin schon wieder zu tief für einen Rückflug gegen den Wind an den Pfeiler. Ich wage es kaum, den Steuerknüppel zu bewegen. Der Grimming empfängt mich auf der Westseite mit einem knappen Meter Steigen, und unter dem Hauptgipfel geht es laminar mit 4 m/s nach unten. Ich reiße alles herum und gehe wieder an die enge Aufwindstelle. Steigen und nachdenken. Von hier aus sind es noch 70 km bis zur östlichen Wende, insgesamt noch knapp 700 Kilometer für die Aufgabe. Es ist kurz nach 13 Uhr. Sogar mit Rückenwind habe ich den Zeitrückstand, den ich schon früh morgens aufgebaut hatte, nicht einmal annähernd abgebaut. Und seit vier Gebirgsgruppen  (Hochkönig, Tennengebirge, Dachstein, Grimming) wurde der nutzbare Hangaufwindteil von Berg zu Berg immer kleiner und schwächer. Noch bin ich in einer Position, in der es vielleicht ein Zurück gibt…

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In dem Moment, in dem ich über den Hauptgrat des Grimming hinweg in 2300 m nach Norden sehen kann, ebbt der Aufwind ab. In meinem Kopf rattert und rechnet es. Ich ziehe noch zwei Schleifen ohne Steigen und schaue in alle Richtungen. Am Ende siegt das Argument, dass ich einfach kein gutes Gefühl für einen Weiterflug habe. Wie automatisch richte ich nach Westen auf und beginne mit dem Rückflug. Der Versuch, einen kontinentalen Langstreckenrekord aufzustellen, ist gescheitert.

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Lektion Zehn – Zur Not, einfach fliegen. Ohne das vom Hinflug sehr genaue Vorwissen, an welchen Ausläufern und welchen Pfeilern des Dachsteingebirges die Luft trägt, die den Berg heute so unangenehm umfließt, wäre ich eventuell nicht mehr an dem Massiv vorbeigekommen. Es ist Maßarbeit, die Gesamtenergie aus Geschwindigkeit und Höhe im richtigen Bereich zu halten. Da der Aufwind sowieso in 2300 m aufhört, fast 700 Meter unter dem Gipfel, versuche ich einfach, in 2250 Metern in den Aufwindfeldern möglichst viel Fahrt aufzubauen und das Flugzeug dann an der Wand entlang ausschießen zu lassen bis zum nächsten Punkt, den ich mir vom Hinflug gemerkt hatte. Sobald ich diese Methode kapiert habe, geht es deutlich besser voran und ich muss kaum noch kreisen. Doch erst auf der Querung zurück zum Tennengebirge kann ich eine Minute lang tief durchatmen und ahne, dass es genauso gut hätte schief gehen können.

Aufgabe abgebrochen, Rekord verloren. War es wirklich die richtige Entscheidung? Wäre der Wendepunkt noch drin gewesen? Selbst wenn, es hätte mich in dem schwachen Hangaufwind so weit hinter den Zeitplan geworfen, dass es ohnehin nicht geklappt hätte. Aber was, wenn es doch gegangen wäre? Jetzt ist Ruhe, sage ich laut. Heute ist noch lange nicht vorbei. Eines der größten Probleme des Fluges – die Erfüllung der deklarierten Aufgabe – ist vom Tisch. Können wir jetzt bitte mit dem Fliegen weiter machen? Je nachdem wie es gegen den Wind läuft – denn bisher läuft es ganz akteptabel – sind die tausend Kilometer als freie Strecke noch drin. Vielleicht weniger, vielleicht mehr. Einfach fliegen, hat sie gestern Abend gesagt. Also los, flieg einfach.

Ich brauche noch bis zum Steinernen Meer, um das Gedanken-Ping-Pong zu überwinden und die neue Situation ganz zu akzeptieren. Die Hänge tragen so schwach und zahm wie auf dem Hinflug, nur die Querungen kosten durch den Gegenwind jeweils fast die doppelte Höhe, und damit auch fast die dreifache Zeit. An der schwierigsten Lücke der Region, dem Schuss gegen den Wind zum Hochkönig-Gipfel aus Nordosten, hilft mir eine schwache, sehr enge Welle aus der Patsche, die mich knapp über 3000 m trägt. Sie bringt mich auf den Gedanken, was heute Abend noch alles im Westen, im Schweizer Wellensystem, möglich sein könnte…

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Knapp 50 Felskilometer weiter westlich – alles fühlt sich an wie gewohnt, nur die Landschaft fährt langsamer vorbei als im Normalfall – traue ich mich dann sogar wieder, mit Zahlen zu arbeiten. Sehen wir den Fakten ins Gesicht, ich fliege seit der Wende eine Schnittgeschwindigkeit von 73 km/h über Grund, obwohl die Hangflugroute insgesamt eher besser läuft als auf dem Hinflug. Der Westwind fordert seinen Tribut. Die nötigen 110 km/h für eine Vollendung der Aufgabe bis zur Dunkelheit wären nicht annähernd realistisch gewesen. In diesem Moment schneide ich beim Abflug von den Loferer Steinberge durch laminares, klar definiertes Steigen. Ich ziehe den Discus in einen engen Kreis und versuche zu holen, was ich kriegen kann. Die Kaiser-Rofan-Lücke liegt noch eine halbe Stunde voraus, aber vielleicht kann ich hier schon mit der Lösung beginnen. In 3500 m Höhe flaut das Wellensteigen ab. Was tun mit diesem willkommenen Kapital?

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Lektion Elf – Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Auf dem Flug des 4.11. letztes Jahr war es mein Begleiter Mark Fingerle, der als Erster die Idee formulierte, den Kaiser komplett auszulassen und durch die Rotoren am Kitzbüheler Horn direkt in die Wildschönau zu springen, um auf diese Weise den gebündelten Windstrahl des Inntal-Outflow nicht direkt ins Gesicht zu bekommen. Vom Hinflug her weiß ich, dass es auch heute aus dem Hangaufwind des Kaisers heraus gegen die Talauswärts schießende Luft keinen direkten Weg zum Rofan geben kann. Also nutze ich die Chance der unerwarteten Höhe aus der Loferer-Welle, um ein Stück nach Süden zu verlagern. Einzelne, kaum erkennbare zerbrochene Cumuli wehen über dem Horn und der Hohen Salve. Der Gleitsprung kostet mich tausend Meter Höhe auf 13 Kilometer, aber ich bin immer noch in einer besseren Position, als die Südwand des Kaisers mir je liefern könnte. Zum ersten Mal seit Stunden werde ich wieder von ernsthafter Turbulenz getroffen. Für einige Kilometer kann ich meine Höhe dann parallel zum Gelände etwa halten, doch einige vorsichtige Kreise bringen nichts. Trotzdem finde ich mich über der Hohen Salve in 2600 m Höhe wieder, und aus der Statistik heraus weiß ich, dass von hier aus auch schon tiefere Attacken auf den Rofan erfolgreich geflogen wurden. Vorsichtig drücke ich weiter – ich muss 180 km/h fliegen, um überhaupt sinnvoll vorwärts zu kommen. Und dann bricht die Hölle über mich herein.

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Die Ordnung der Dinge in der Kabine, die schon früh morgens beim Schlepp gnadenlos durch Schütteln umverteilt wurden, gerät nun endgültig aus den Fugen. Das Variometer steht minutenlang entweder am unteren oder am oberen Anschlag, ohne jemals in der Mitte stehen zu bleiben. Ich habe kaum Zeit auf den Höhenmesser zu schauen, doch ich weiß, dass ich in der Summe stetig verliere. Auf halber Strecke zum Zillertalausgang, wo der Gegenwind sprunghaft schwächer werden sollte, bin ich nur noch 1900 m hoch. Ich wüsste gerne, was hier vor sich geht. Im Luv der letzten sinnvoll geformten Rotorwolke dieser ganzen Linie finde ich schon wieder kein Steigen, sondern nur Turbulenz. Genervt drehe ich nach Norden ab, damit mich das Gelände nicht ganz verschluckt. Plötzlich reißt es den linken Flügel hoch. Dann den rechten. Dann beide. Ich halte den Knüppel voll gezogen und kann die Fahrt gerade so konstant halten. Nach einem Halbkreis falle ich wieder herunter. Kurvenwechsel. Hier ist er. Nein, weiter drüben. Mit vollen Ruderausschlägen dränge ich das Flugzeug in den Rotor der Wildschönau – warum auch immer er genau hier, auf der Nordseite der Wolke steht. Nach jedem Kreis muss ich eine Ewigkeit gerade aus fliegen, bis die nächste Böe mir wieder das Zentrum anzeigt. Es dauert bestimmt fünf Minuten, bis ich ein Konzept in dem Strudel erkennen kann, um sinnvoll Höhe zu gewinnen. Dann geht alles ganz schnell – in 2500 m kann ich über das Zillertal und das Kellerjoch wieder auf die Nordkette zielen. Dunkle Wolken verhüllen die Gipfelgrate, gefüttert von feuchter Luft, die ohne trocknenden Föhneffekt durch den Brennerkanal direkt aus dem Süden einfließt. Die Energie der Luft ist wieder auf ein ganz anderes Niveau gestiegen. Das Erlebnis des Einstiegs in den westlichen, präfrontalen Wetterraum beeindruckt mich jedes Mal aufs Neue.

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Lektion Zwölf – Neue Aussichten, alte Bekannte. Wieder wird es die Heiterwand sein, die über einen schnellen oder eben einen problematischen Weg durch das Oberinntal entscheidet. Vor genau neun Stunden ging hier alles zu Bruch, was ich mir für diese Stelle jemals an Strategie über viele Flüge hinweg ausgedacht und zurechtgelegt hatte. Vor neun Stunden wurden dort, direkt vor mir, die Weichen gestellt, die vorhin am Grimming zum Abbruch des Rekordversuches führten. Der Vorfall geht mir schon den ganzen Tag nicht aus dem Kopf. Auf der Querung über Nassereith sehe ich mich schon wieder unten am Tschirgant Achten fliegen. Insgeheim weiß ich, dass die nächsten Minuten das letzte Problem stellen werden, das zwischen mir und den tausend Kilometern steht.

Ich hole tief Luft, dann gehe ich neben die Felsen. Der Aufwind erfasst mich so rabiat, dass ich nicht auf das Variometer schauen muss, um zu wissen, dass das Spiel jetzt gewonnen ist. Es kann so einfach sein. Es kann so schnell gehen. Was ist nur passiert in der Früh? Was ist nur anders heute Abend?

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Nach einer halben Stunde kann ich in 3000 m Höhe den Arlbergpass queren. Die Sauerstoffmaske, die ich mir gerade erst wieder über die Ohren gezogen habe, riecht nach Vorfreude. Ein Blick auf die Uhr sagt, dass ich jetzt seit zehn Stunden unterwegs bin. Es fühlt sich nach viel weniger an. Ich habe den ganzen Tag über genug gegessen, getrunken und uriniert, und ich fühle mich so, als könnte ich bei all der Energie und den Möglichkeiten dieses mächtigen Tages noch ewig weiter machen. Ich kann es kaum erwarten, im Montafon wieder in die Welle einzusteigen, die wahrscheinlich die zuverlässigste der gesamten Alpen ist.

Nach einigen Suchkreisen zusammen mit zwei Schweizer Flugzeugen (später erfahre ich, dass es Tizian Steiger und Rainer Cronjäger sind) am Standardeinstieg südlich des Itonskopfes, nahe des Wasserkraftwerkes unten im Tal, finden wir den Einstieg in den laminaren Bereich. Die Steiggeschwindigkeiten sind so enorm, dass es uns im Handumdrehen mehrere hundert Höhenmeter auseinander reißt. Ich steige mit gut 8 m/s, habe aber den Verdacht, dass Rainer gut im zweistelligen Bereich gewesen sein könnte. Ich entscheide mich dafür, am Luftraumdeckel in 4600 m nicht wie morgens direkt über die Schesaplana zu queren, sondern die Welle noch ein wenig nach Nordwesten zu verfolgen, um den Höhenverlust bei der Querung zu verbessern (Nachher stellte sich heraus, dass beide Methoden genau gleich schnell waren).

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Über Bad Ragaz ist der Ort des Wellensteigens fast unverändert, doch ich finde ihn nur durch die Erfahrung des Morgens, da er auf allen vier Seiten von unübersichtlich ausufernden und pulsierenden Wolken eingerahmt ist. Die Atmosphäre kocht und schäumt, Quellungen entstehen in Sekundenschnelle und verschwinden ebenso schnell. Wieder steige ich mit über 6 m/s. In FL130 dränge ich noch bis zum Westufer des Rheintals gegen den Wind. Ich habe nun 850 Kilometer geflogen und noch gut eineinhalb Stunden Zeit bis zur Dunkelheit. Und ab jetzt nur noch Rückenwind. Ich überschlage zwei mal: Komme ich in der verbleibenden Zeit nach Hause, sind es tausend. Erreiche ich vorher sogar noch den Rofan, werden es elfhundert. 1100. Elfhundert.

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Lektion Dreizehn – Das letzte Fragezeichen. Wieder fliege ich mit knapp 300 km/h nach Osten. Die Sonne steht tief hinter mir, so dass es hinter manchen Scharten und Ausläufern der Berge, die tief unter mir durchziehen, schon fast dunkel ist. Um unter die Luftraumgrenze bei Landeck zu gelangen, tauche ich auf die Leeseite einer Rotorwolke, bis ich unter der Basis bin. An der Mieminger Kette muss ich mich entscheiden: Karwendel oder Rofan? Tausend oder elfhundert? Beim Blick auf die Uhr erschrecke ich fast: Es verbleibt immer noch eine knappe Stunde bis Sonnenuntergang, sogar etwas mehr bis zur Dunkelheit. Eine solche Chance nicht zu nutzen, einen solchen Tag nicht auf diese Weise zu würdigen, wäre undenkbar. Also hole ich tief Luft und schwenke auf die Nordkette. Direkt vor der immer breiter werdenden Staubewölkung – direkt an der Luftraumgrenze – schießt der Discus ohne einen Kreis nach Osten. Irgendwo querab Innsbruck muss ich wohl die Tausend-Kilometer-Marke überschritten haben. Ich weiß es nicht genau, weil ich die Navigationssoftware nun immer wieder für längere Zeit abschalten muss, um Strom zu sparen. Ich gehe immer nur kurz aus dem Standby-Modus, wenn ich etwas wichtiges wissen muss. Zwölf Stunden sind wir jetzt unterwegs, das kennt die „2D“ nicht, das kenne ich auch noch nicht. Das Flugzeug ist müde, und ich habe auch langsam kein Problem mehr mit dem Gedanken an einen Rückflug.

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Um kurz vor Sieben erreiche ich den Rofan und meinen für 1100 km errechneten freien Wendepunkt in 2200 m Höhe. Der Südhang des riesigen Blockes trägt kaum, aber das macht jetzt auch nichts. Auf, nach Hause nun. Noch reicht die Höhe nicht ganz, aber für die letzten 50 km verbleibt fast eine halbe Stunde Zeit, plus die Reserve zwischen Sonnenuntergang und Dämmerung. Ich überlege, was nun die eleganteste Lösung ist.

Wenn ich es mir recht überlege, ist die Situation gerade ganz schön vertrackt, die Zeit knapp, die Höhe nicht ausreichend, die Optionen mangelhaft. Bin ich etwa über die letzte Stunde des einfachen Rückenwindfliegens zu passiv, zu gleichgültig geworden, oder zählt das noch als Souveränität? Ich erinnere mich an einen Flug vor einem knappen Jahr, an dem ich in einer ähnlichen Situation über den Achensee von hinten in die Rotorlinie der Karwendelkette eingestiegen bin. Ein kurzer Blick bestätigt, das die Wolken auch diesmal hinter dem Stanser Joch wirbeln und wehen. In 2000 m steche ich dorthin, wo der Rotor stehen könnte. Nach drei Kreisen ist die ganze Umgebung abgestastet, bis ich den Kern mit 3 m/s scharf durchschneide. Der letzte Tanz gehört mir. Nach ein paar hundert Metern Steigflug öffnet sich das zentrale Karwendel und das Rißtal vor mir, dahinter das Wettersteingebirge. Quellende Wolkenschwaden weisen mir den Weg und absorbieren dabei die letzten Sonnenstrahlen des Tages.

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Jede Minute von jetzt an wird der Horizont einen Teil des gleißend goldenen Lichts verschlingen. Als ich nach Norden drehe und aus 3000 m Höhe zum Endanflug nach Königsdorf ansetze, kann ich die Augen nicht von dem Schauspiel zu meiner Linken nehmen. Erst als tief unten entlang des östlichen bayerischen Alpenvorlandes die ersten Laternen in den Ortschaften angehen und größere Straßen schon als Lichterketten zu mir herauf blinken, kann ich mich losreißen und schließlich eine Antwort auf die Frage suchen, wie es wohl ist, nach fast 13 Stunden Flugzeit ein Flugzeug nach Hause zu bringen.

Epilog – Dies ist mein Geständnis. Es ist alles was ich habe, und alles was ich weiß. Dies ist die ganze Geschichte, der gescheiterte Versuch, einen deutschen und europäischen Segelflugrekord zu brechen. Es hätte fast geklappt, doch in dem Moment, in dem ich die Tausend Kilometer tatsächlich wieder überflog – zum vierten Mal in vier Jahren – war mir der Rest egal. Denn es wird einen anderen Tag geben.

Trotzdem dauerte es einige Zeit, bis ich mich getraut habe, noch einmal nüchtern nachzurechnen. Ergebnis: Selbst wenn ich den abgebrochenen, da nicht vertrauenserweckenden Ost-Teil mit 100 km/h geschafft hätte (und das wäre schneller als der Hangflug auf der tatsächlich geflogenen Strecke), wäre ich an der letzten Wende im Montafon nur 55 Minuten vor dem Einbruch der absoluten Dunkelheit gewesen. Und ein 220er Schnitt, gerechnet auf die allerletzte Minute des Tages, wäre selbst aus der Welle mit Rückenwind nicht sicher möglich gewesen. Am Ende hätten allerdings wahrscheinlich nur 15 oder 20 Minuten gefehlt – in jedem Fall weniger Zeit, als ich auf dem Tiefpunkt am frühen Morgen verloren habe. Doch gerade dafür wird es einen anderen Tag geben, und wie immer ist es auch diesmal so: Ich kann es kaum erwarten. Und dies ist die gesamte Geschichte.

Ich habe versucht, keine Fakten oder Ideen zu vereinfachen oder zu verbergen, die den Flug maßgeblich beeinflusst haben. Ich habe versucht, alles herzugeben, habe versucht dich mitzunehmen, obwohl wir beide – wie so viele – im Föhnsturm wahrscheinlich nie das Vergnügen miteinander haben werden. Doch diese Tatsache – auch wenn sie auf den ersten Blick nicht nett aussieht – soll niemanden davon abhalten, selbst an dem Thema zu arbeiten, alle Informationen zu sammeln, verschiedene fremde Flüge nachzuvollziehen, sich ausgiebig vorzubereiten, und dann immer wieder zu fliegen – den ganzen langen Weg zu gehen eben, um irgendwann seine eigene Geschichte aufschreiben zu können.

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9 Kommentare zu “Hundert mal elf

  1. Lieber Benni,

    jetzt muss ich erst mal was trinken und meine schweissnassen Hände abtrocknen,
    der Mitflug war zu spannend.

    DANKE für Deine Mühe sowas so spannend zu erzählen!!!!

    Allzeit Holm- und Rippenbruch

    Severin

  2. Lieber Benni,

    danke für Deinen unglaublichen Bericht. Ich kann viel damit anfangen. Wie Du Flugwegentscheidungen und harte Facts teilst, aber genau so wichtig sind mir die Beschreibung Deiner Stimmung. Die Kombiation ist einzigartig. Danke.

    Volker

  3. Hallo Benni
    Danke für den eindrucksvollen Bericht, der mich diesen Tag auch noch einmal erleben lässt. Ich war wohl in dem winzigen Flugzeug unten an der Heiterwand – wir haben uns dort gekreuzt. Ich freue mich auf den ersten Flug, der mich in „den Osten“ trägt…
    let’s fly! Roland

  4. Lieber Benni,
    wieder ein fesselender und wirklich toll dokumentierter Flugbericht von dir!
    Vielen Dank, dass du es in dieser Form niedergeschrieben und uns allen zugänglich gemacht hast… 🙂

  5. Lieber Benni,
    Herzlichen Dank für den super spannenden Bericht. Ich war an jendem Tag ebenfalls unterwegs – Crew Daniel Kiss, Peter Schmid – von Schänis aus. Bei uns gab es nur verhältnismässig bescheidene 772 OLC Kilometer. Wir haben uns ebenfalls über längere Zeit in der Region Tschirgant verstrickt. Am 16. September war der Teil Richtung Westen, also von Bad Ragaz über das Elmer Becken, Klausenpass bis an die Westseite der Luftstrasse Alfa 9 sehr gut gelaufen. Auch weiter westlich wäre es gut gegangen, allerdings gab es westlich des A9 „nur noch“ FL130, davor FL 155.
    Deine Beschreibung des Fluges weiter gegen Osten habe ich mit Akribie und Karte studiert. Beim nächsten Anlauf klappt’s dann hoffentlich noch weiter in den Osten zu fliegen.
    Herzlichen Dank für den Beriech und weiterhin viele tolle Flüge.
    Peter Schmid
    SG Lägern, Schänis

  6. Lieber Benni!

    Du vermittelst uns
    die Macht der Begeisterung,
    die Dynamik der Welle,
    die Weite der Natur und
    die Kraft der Worte.

    Herzlichen Dank
    Dein Martin

  7. Lieber Benni,
    Wenn man deinen Bericht liest hat man wirklich das Gefühl mitgeflogen zu sein!
    Schade, dass du den Rekordversuch abbrechen musstest. Ich hatte ebenfalls zu Beginn des Fluges mühe in Fahrt zu kommen. Aber Irgendwann muss etwas mit der Luft passiert sein, was die Bedingungen verändert hat. Auf einem Schenkel nach Westen von Ragaz aus konnte ich sogar ohne Kreis und ohne Achten bis Engelberg fliegen.
    Im Montafon hatte ich auch einen zweistelligen Wert auf dem Variometer 😉
    Gruss Tizian

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