Das nächste Kapitel

Das Jahr Zweitausendelf begann für mich am dritten Januar auf dem Bahnsteig 2 in Dillingen an der Donau. Ich befand mich seit gerade zwei Wochen wieder zurück in Deutschland, und zwei Wochen lang hatte ich die Kälte dort mehr oder weniger erfolgreich zurückgedrängt. Jetzt allerdings war es anders. Mir fiel auf, dass ich in den paar Stunden Zugfahrt zum ersten Mal seit vielen Tagen wieder alleine war.

Ich fror.

Dann warf ich einen Blick auf die Uhr, auf den Stadtplan, auf die ausgestorbene Hauptstraße des Städchens, dachte nichts, und lief los.

– Der Kaserneneingang ist von einem relativ schwer bewaffneten Soldaten in Grün bewacht. Er grüßt mich nicht (wahrscheinlich darf er das gar nicht), aber zumindest bedroht er mich auch nicht. An der Pforte kontrolliert man meine Papiere und beschreibt mir den Weg durch das mit Beton und Stacheldraht ummauerte Gelände, zu etwas, das wohl „Einschleusung“ genannt wird. Mit gesenktem Kopf gehe ich davon und lasse mir viel, viel Zeit.

Aber ich habe es ja so gewollt, denke ich mir auf dem Weg zwischen abgestellten, grüngrauen LKWs und merkwürdig im Weg geparkten Panzerfahrzeugen. So blöd es auch klingt, es stimmt. Seit ich fliegen kann, seit über fünf Jahren, habe ich zuerst geträumt, dann gewünscht, schließlich gehofft, dass ich genau heute hierher kommen darf. Und jetzt bin ich hier, stelle meine Sporttasche zu den zahllosen anderen auf dem Fußboden des Gebäudes, und beginne eine Unmenge von Formularen zu füllen und unterschreiben. Alles, ohne dem äußerst grün gekleideten jungen Mann am Schreibtisch ins Gesicht schauen zu können.

Ich bin jetzt Segelflug-Sportsoldat der Bundeswehr und damit einer der sechs am intensivsten geförderten Piloten Deutschlands.

Nach sechs Wochen militärischer Grundausbildung wird es unsere „berufliche“ Aufgabe sein, einen Sommer lang Trainingslager und Wettbewerbe in ganz Europa zu fliegen. Die leistungssportliche Chance, die sich in dieser Zeit bietet, ist für mich fast mit nichts anderem aufzuwiegen. Es war mein am besten gepflegter und behüteter Traum, und ich habe jahrelang darauf hingearbeitet, hier genommen zu werden.

Es ist mir sogar wert, dafür eines meiner Prinzipien zu brechen: Zum Bund wollte ich als Kind ganz sicher nicht gehen. Demensprechend unsicher und fehl am Platze fühle ich mich, als ich wenige Minuten später in einen großen Warteraum trete und mich auf einem freien Stuhl niederlasse. Verunsicherte Blicke unterschiedlichster Art treffen sich im Raum, auf der Leinwand vorne läuft ein Film über Panzer und Gewehre, und hin und wieder wird jemand unsanft in den Nebenraum kommandiert. Wo wohl die anderen Segelflieger sind? Sind sie schon da?

Keiner der Rekruten spricht ein Wort.

Wieder kommen zwei Neue an und setzen sich in meine Nähe. Sie sprechen  mit gesenkter Stimme, und erstmals seit Stunden höre ich wieder jemanden lachen. Immer wieder sehe ich verstohlen hinüber und suche automatisch den Blickkontakt. Als wieder jemand aufgerufen wird, muss ich aufstehen um ihn durchzulassen. Dabei fällt mein Laufzettel auf den Boden, auf dem mein Name steht. Einer der beiden reckt kurz den Hals, und dann –

„Benni????“

Ich beginne unweigerlich zu lachen, hole meinen Zettel vom Boden und bleibe auf dem Rückweg am Gang knien. „Seid ihr’s? Marco Heitmann und… und…“ – „Fabian Peitz“, stellt sich der andere junge Mann vor und wir sind plötzlich zu dritt. „Joachim Schwenk ist schon reingerufen worden, weiß irgendwer wo Daniel Pietsch ist?“

Kurze Zeit darauf ist die Mannschaft vorerst komplett. Der sechste im Bunde, Sebastian Nägel, weilt im Moment noch in Chile und hat die Grundausbildung schon im letzten Jahr absolviert.

„Cool, dass wir alle hier sind. Aber die erste Zeit wird ganz sicher nicht besonders lustig…“

Und an dieser Stelle ist es Zeit, den vorläufigen Trainingsplan zu veröffentlichen. Nicht immer werden wir alle miteinander fliegen, aber meistens mindestens zwei oder drei Sportsoldaten auf einem Event zu finden sein. Für uns alle wird der Sommer 2011 bereits im März beim Training in Südfrankreich beginnen. Im April dann fahren Daniel und ich auf den internationalen Wettbewerb in Prievidza (Slowakei), woraufhin das D-Kader-Trainingslager in Eichstätt bis in den Mai reicht. Bis Ende Juni werden mindestens Fabi und ich für über einen Monat nach Schweden fahren, um in Arboga und Eskilstuna mitsamt Arcus und Frauen-Nationalmannschaft zu trainieren. Zurück in Deutschland stehen für mich die Quali-Wettbewerbe in Bad Sobernheim (Clubklasse) und Ansbach (Standardklasse) an, dazwischen liegt der internationale Militärwettkampf in Holzdorf bei Berlin.

Abschließen werden wir das Jahr wiederum mit einem Training in Südfrankreich, bevor der Weg uns wieder ins „normale“ Leben zurück führt.

– Aber was ist schon normal?

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